Ende September, draußen ist es nass und auf eklige Weise lauwarm. Ich sitze an meiner Werkbank und blättere in den Tagebuchaufzeichnungen eines berühmten Literaturkritikers. Heute vor 21 Jahren telefonierte er mit Günter Grass, der wie so oft nur von sich selbst berichten wollte, was den Kritiker sehr ärgerte, ihn aber immer noch nicht veranlasste, dem egozentrischen Schriftsteller die Freundschaft zu kündigen. Das stimmt auch mich verdrießlich. Um mich aufzuheitern, schaue ich nach, was Thomas Mann am gleichen Tag vor 56 Jahren getrieben hat. Im Theater war er, Molière wurde gegeben, und der alte Herr freute sich, zum ersten Mal den "neuen grauen Maßanzug" zu tragen.
Solche Vergnügungen sind unsereinem leider nicht vergönnt. Ich hocke hier in einer mehrfach geflickten Nietenhose, die längst eine Wäsche nötig hätte, dazu trage ich einen hässlichen Nicki-Pullover, den vor vielen Jahren ein Schriftsteller bei mir vergessen hatte. Damals lud ich noch regelmäßig junge Hoffnungen der deutschsprachigen Literatur ein, um mit ihnen über erzähltechnische Probleme zu diskutieren. Gewöhnlich endeten diese Gespräche in wenig erquicklichen Trinkgelagen. Die Nachwuchsautoren klagten über ihre ereignislose Jugend in Peine oder Mettingen, ich rächte mich mit Anekdoten aus der alternativen Literaturszene der Siebzigerjahre, und irgendwann waren meine Alkoholvorräte bis auf die letzte Flasche Sechsämtertropfen erschöpft.
Von den meisten dieser so vielversprechend wirkenden Talente hat man seit Jahren nichts mehr gehört. Und auch mich kennt eigentlich niemand mehr. Mein Dasein fand ich selten so treffend beschrieben wie auf der ersten Seite des vorzüglichen Romans Das Zimmer, mit dem der aus dem Hessischen stammende Autor Andreas Maier, glaubt man dem Klappentext, eine große Familiensaga beginnen möchte. Da heißt es von Onkel J., der Hauptfigur des Buches, er habe eine "Kellerexistenz als eingebildeter Handwerker" geführt. Besagter Onkel nämlich verbrachte ungezählte Stunden in einer vollständig eingerichteten Werkstatt, um dort vollkommen sinnlose Arbeiten zu verrichten. Er schraubte und fräste, bohrte und feilte, ohne dass jemals ein vollendetes oder repariertes Gerät oder Werkstück den Raum verlassen hätte. Maiers Onkel J. also ließ mich schlagartig erkennen, dass auch ich bereits seit Jahren einer Tätigkeit als "Scheinkritiker" nachgehe. Ich lese Vorschauen, bestelle Rezensionsexemplare und verfasse gelegentlich, aber eigentlich nur noch sehr selten, eine Buchbesprechung, die ich dann nicht einmal dieser Zeitschrift anzubieten mich traue. Dass hin und wieder doch ein Textlein erscheint, vermag ich mir selbst kaum zu erklären. Die Existenz des Scheinkritikers ist ebenso rätselhaft wie peinlich.
Tagsüber mache ich einen geschäftigen Eindruck, lasse überall Bücher herumliegen, aus denen kleine Notizzettel herauslugen, und streue in Telefongesprächen mit den wenigen Menschen, die mich noch anrufen, einschlägige Namen aus dem Literaturbetrieb ein. Kommt dann die unvermeidliche Frage, warum man in letzter Zeit so wenig von mir lese, erzähle ich von einem Buchprojekt zur Situation der zeitgenössischen Literatur, das mich voll in Anspruch nehme. Ist natürlich alles eitel Gefallsucht und glatt gelogen. Niemand will wissen, was ich von Andreas Maier halte. Oder von Martin Mosebach. Das unterscheidet mich von anderen Scheinkritikern. Ich bin nämlich nicht allein. Manche von uns haben ihre Scheinexistenz so professionalisiert, dass sie gelegentlich gebeten werden, ihre Meinung zu diesem oder jenem Buch kundzutun. Erst vor kurzem hörte ich, wie eine Veteranin unserer Profession in einem Kultursender eben jenen Roman von Andreas Maier lobte, aber nicht einmal in der Lage war, die Handlung fehlerfrei zu referieren. Offenbar hatte sie das Buch nur auszugsweise gelesen.
Hässlicher Neid macht sich in dieser Kolumne breit. Zu gerne würde ich vor laufenden Kameras feststellen, dass ein Roman glaubhaft darstelle, wie "in der Bundesrepublik Deutschland des Jahres 2010 gelebt und gedacht und gehandelt" werde. Oder in einem Aufsatz zur Gegenwartsliteratur die Attribute "verrückt-schön" (für ein Debüt) und "hyperdunkel" (für das Buch eines österreichischen Starautors) verwenden. Ich wäre nicht verlegen um solche Blüten der Formulierungskunst. In solchen Situationen bewundere ich den 1993 viel zu jung verstorbenen Helmut Salzinger, der als Literaturkritiker begann, sich dann der populären Musik zuwandte, um sich in den letzten Jahren seines Lebens vor allem mit seinem Garten zu befassen. 1974 veröffentlicht er in der Musikzeitschrift Sounds einen Text mit der programmatischen Überschrift "Ich fühle mich nicht als 'Kritiker'" und erzählt seinen Lesern, dass er Platten von Johnny Winter, den Crusaders, Paul Kosoff und John Mayall hört, während draußen die trunkene Dorfjugend lautstark den Faschingsdienstag begeht. Anstatt Adjektive wie "glitschig, jazzig, rockig-jazzig, jazzig-rockig" zu verwenden, um die Musik der Crusaders zu charakterisieren, entscheidet sich Salzinger dafür, über Musik zu schreiben, wie er darüber sprechen würde, wenn er jemandem von einer neuen Platte erzählen will. "Diese Rezensionen nach dem Prinzip Buchkritik tragen dazu bei, die Platten zum Kulturgut zu verdinglichen. Das aber ist unbrauchbar."
Vielleicht sollte man dieses Prinzip auf Bücher zurückübertragen. Es ginge dann im Sinne Salzingers nicht um irgendwelche "Ewigkeitswerte", sondern darum, ob sich mit ihnen "leben lässt". Und das ist eine Eigenschaft, die ich den beiden Erzählbänden, die seit Tagen einen Platz neben dem halbfertigen Flugmodell auf meiner Werkbank gefunden haben, gerne bescheinigen möchte. Franz Doblers alphabetisch angeordnete kurze Geschichten, die nur das Nötigste über ihre Figuren verraten, kann man immer wieder lesen, auch wenn man dem Verlag lieber nicht glauben mag, dass sie ein "ABC des Lebens ergeben". Selbst wenn man Ratschläge des Erzählers wie den, "einen Mann in einer Armeejacke" nicht zu unterschätzen, gerne beherzigt, klingt sein Rezept für Sauerkraut mit Dosenthunfisch selbst für einen wenig verwöhnten Scheinkritiker am Rande des Existenzminimums eher abschreckend. Aber davon zu lesen, ist ausgesprochen aufschlussreich und unterhaltsam. Das gilt gleichermaßen für die "irischen Stories" des Musikers Mick Fitzgerald, die in einem schmalen Bändchen in einer verdammt kleinen Schrift abgedruckt sind. Auch in diesen Geschichten von Musik, Suff und Liebe stecken ganze Romane, die glücklicherweise ungeschrieben geblieben sind, denn die könnte ich unmöglich in der Jackentasche mit mir herumtragen.
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