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Fritz Müller-Zech 58
Die Kolumne
 

In dem schmucklosen Funktionsbau, der bis vor kurzem noch einen PLUS-Supermarkt beherbergte, bietet seit zwei Wochen eine NETTO-Filiale ihre Waren feil. Es passiert etwas in Oer-Erkenschwick, und ich weiß nicht, ob ich es gut finden soll. "Prima leben und sparen", so lautete lange Zeit ein Reklamespruch der PLUS-Supermärkte, den ich mir gerne mal für diese Zeitschrift ausgeliehen hätte. "Am Erker - prima lesen und sparen", mit einer solchen Parole hätte man ganz neue Käuferschichten ansprechen können, wäre denn genügend Geld für eine Werbekampagne vorhanden gewesen.
Immer, wenn ich am PLUS-Supermarkt vorbeiradelte, kam mir dieser Slogan in den Sinn. Bei dem Wörtchen "netto" hingegen muss ich höchstens an die Wahlwerbung liberaler Parteien denken, und das ist mir nicht sehr angenehm. Doch um Politik soll es gar nicht gehen in dieser Kolumne. Sondern um Coolness. Weil ich nämlich nie cool war, es aber gerne gewesen wäre. Dann würde ich allerdings auch nicht in einer Stadt wohnen, deren Bindestrichname, ähnlich wie der des nicht weit entfernten Castrop-Rauxel, fast schon als Synonym für Uncoolness herhalten könnte. Obwohl immerhin der große Musiker Moondog hier die letzten Jahre seines Lebens verbracht hat. Aber war Moondog cool? Verglichen mit einem Kerl wie Miles Davis, dem der Kritiker Tobias Lehmkuhl jetzt einen lesenswerten Essay gewidmet hat? Der glühte innerlich, gab sich aber gerne frostig. Spielte sein Solo und verließ die Bühne. Lächelte nie. Terrorisierte seine Bands. Und machte grandiose Musik.
Was man von der Band Skrotum Inferno aus Lüdenscheid, die irgendwann um 1970 in unserem Jugendheim gastierte, gewiss nicht behaupten kann. Deren Sänger, in enger Lederhose und weit geöffnetem Rüschenhemd, verließ während eines halbstündigen Gitarrensolos die Bühne und stellte sich lässig an die Bar, was ein paar Mädchen, die vor den Geschwindigkeits-Übungen des Saitenakrobaten geflüchtet waren, sichtlich beeindruckte. Ich stand derweil in C&A-Parka und Kaufhausjeans in der Nähe der Lautsprecher und glotzte neidisch. So cool und unnahbar hätte ich auch gerne ausgesehen.
Von Miles Davis hatte ich damals noch nie gehört. Mein Musikgeschmack war geprägt durch die Hits der britischen Top Ten, die samstags im WDR gespielt wurden. Und durch die "Großen Acht" von Radio Luxemburg. Meine Lieblingsband hieß Creedence Clearwater Revival, und "Bad Moon Rising" war mein Lieblingssong. Doch damit konnte man nicht punkten. Wer cool sein wollte, musste Progressives hören, musste Namen wie Amon Düül (eins und zwei), Guru Guru oder Xhol parat haben. Und bei einem Skrotum-Inferno-Auftritt durch minimales rhythmisches Kopfnicken Kennerschaft demonstrieren.
Wenn der in beiden Metiers versierte Schriftsteller Marc Degens in einem Aufsatz über Popmusik und Literatur schreibt, die Popfans seien nicht nur zahlreicher als das gewöhnliche Lesungspublikum, sondern häufg auch jünger, hübscher, knackiger, so trifft dies sicherlich nicht auf die Kleinstadthippies zu, die an jenem Abend des Jahres 1970 miterlebten, wie sich die Skrotum-Inferno-Musi- ker in einen wahren Improvisationsrausch spielten, da der Sänger keine Anstalten machte, auf die Bühne zurückzukehren. Mir wurde all dies allerdings erst am nächsten Morgen in der Schule berichtet, denn zu diesem Zeitpunkt war ich längst zu Hause und schrieb einige verzweifelte Verse in eine Chinakladde, die mir als Tagebuch diente. Damals hätte ich gern in einer anderen Stadt gelebt. In New York zum Beispiel, wo, wie der Dichter Ron Winkler weiß, die "Gehwege wie aus Amphetamin" sind. Oder wenigstens in Recklinghausen. Es ist ja kein Wunder, dass die Texte über Städte in der abwechslungsreichen Anthologie Schau gen Horizont und lausche von Berlin und Calcutta, von Valencia und Bern handeln, aber nicht von Wanne-Eickel oder Wattenscheid. Ein mit Cannabis versetztes Joghurtgetränk, wie es Matto Kaempf in der indischen Pilgerstadt Varanasi zu sich nimmt, würde man hier vergebens suchen. "Die Stadt lag uns schon immer am Herzen", schreiben die Herausgeber in ihrem Vorwort. Aber sind Provinzstädtchen, wo man schon aus dem Häuschen gerät, wenn ein neuer Supermarkt aufmacht, hier mitgemeint?
Ich merke, wie die Erinnerung an mir nagt. Selbst in den Jahren, die ich studierend in der Großstadt Bochum verbrachte, wurde ich Oer-Erkenschwick nicht los. Ich saß in meinem Zimmer im Studentenwohnheim, spielte die Platten von Soft Machine in der Reihenfolge eins bis sieben ab und dachte an John Fogerty und CCR. Ich trug bunte Hemden aus Indien zu Levi's- und Wrangler-Jeans mit Schlag, aber fühlte mich, als ob ich noch immer in dem alten C&A-Parka steckte. Irgendwann ließ ich mir einen Vollbart stehen und zog zurück nach Oer-Erkenschwick, wo ich damit begann, Bücher zu lesen, fernzusehen und Modellflugzeuge zu basteln. Und gleich gehe ich einkaufen. Bei NETTO.

 

Tobias Lehmkuhl: Coolness. Über Miles Davis. 168 Seiten. Rogner & Bernhard bei 2001. Berlin 2009. € 16,90.

Marc Degens: Abweichen. Über Bücher, Comics, Musik. 132 Seiten. Erata. Leipzig 2009. € 14,95.

Stefan Mayr und Nico Schröder (Hrsg.): Schau gen Horizont und lausche. Über Städte. 160 Seiten. Asphalt & Anders. Hamburg 2009. € 11,90.