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Fritz Müller-Zech
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Die Kolumne |
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In dem schmucklosen Funktionsbau, der bis vor
kurzem noch einen PLUS-Supermarkt beherbergte, bietet seit zwei
Wochen eine NETTO-Filiale ihre Waren feil. Es passiert etwas in
Oer-Erkenschwick, und ich weiß nicht, ob ich es gut finden
soll. "Prima leben und sparen", so lautete lange Zeit
ein Reklamespruch der PLUS-Supermärkte, den ich mir gerne
mal für diese Zeitschrift ausgeliehen hätte. "Am
Erker - prima lesen und sparen", mit einer solchen Parole
hätte man ganz neue Käuferschichten ansprechen können,
wäre denn genügend Geld für eine Werbekampagne
vorhanden gewesen.
Immer, wenn ich am PLUS-Supermarkt vorbeiradelte, kam mir dieser
Slogan in den Sinn. Bei dem Wörtchen "netto" hingegen
muss ich höchstens an die Wahlwerbung liberaler Parteien
denken, und das ist mir nicht sehr angenehm. Doch um Politik soll
es gar nicht gehen in dieser Kolumne. Sondern um Coolness. Weil
ich nämlich nie cool war, es aber gerne gewesen wäre.
Dann würde ich allerdings auch nicht in einer Stadt wohnen,
deren Bindestrichname, ähnlich wie der des nicht weit entfernten
Castrop-Rauxel, fast schon als Synonym für Uncoolness herhalten
könnte. Obwohl immerhin der große Musiker Moondog
hier die letzten Jahre seines Lebens verbracht hat. Aber war Moondog
cool? Verglichen mit einem Kerl wie Miles Davis, dem der Kritiker
Tobias Lehmkuhl jetzt einen lesenswerten Essay gewidmet hat? Der
glühte innerlich, gab sich aber gerne frostig. Spielte sein
Solo und verließ die Bühne. Lächelte nie. Terrorisierte
seine Bands. Und machte grandiose Musik.
Was man von der Band Skrotum Inferno aus Lüdenscheid, die
irgendwann um 1970 in unserem Jugendheim gastierte, gewiss nicht
behaupten kann. Deren Sänger, in enger Lederhose und weit
geöffnetem Rüschenhemd, verließ während eines
halbstündigen Gitarrensolos die Bühne und stellte sich
lässig an die Bar, was ein paar Mädchen, die vor den
Geschwindigkeits-Übungen des Saitenakrobaten geflüchtet
waren, sichtlich beeindruckte. Ich stand derweil in C&A-Parka
und Kaufhausjeans in der Nähe der Lautsprecher und glotzte
neidisch. So cool und unnahbar hätte ich auch gerne ausgesehen.
Von Miles Davis hatte ich damals noch nie gehört. Mein Musikgeschmack
war geprägt durch die Hits der britischen Top Ten, die samstags
im WDR gespielt wurden. Und durch die "Großen Acht"
von Radio Luxemburg. Meine Lieblingsband hieß Creedence
Clearwater Revival, und "Bad Moon Rising" war mein Lieblingssong.
Doch damit konnte man nicht punkten. Wer cool sein wollte, musste
Progressives hören, musste Namen wie Amon Düül
(eins und zwei), Guru Guru oder Xhol parat haben. Und bei einem
Skrotum-Inferno-Auftritt durch minimales rhythmisches Kopfnicken
Kennerschaft demonstrieren.
Wenn der in beiden Metiers versierte Schriftsteller Marc Degens
in einem Aufsatz über Popmusik und Literatur schreibt, die
Popfans seien nicht nur zahlreicher als das gewöhnliche Lesungspublikum,
sondern häufg auch jünger, hübscher, knackiger,
so trifft dies sicherlich nicht auf die Kleinstadthippies zu,
die an jenem Abend des Jahres 1970 miterlebten, wie sich die Skrotum-Inferno-Musi-
ker in einen wahren Improvisationsrausch spielten, da der Sänger
keine Anstalten machte, auf die Bühne zurückzukehren.
Mir wurde all dies allerdings erst am nächsten Morgen in
der Schule berichtet, denn zu diesem Zeitpunkt war ich längst
zu Hause und schrieb einige verzweifelte Verse in eine Chinakladde,
die mir als Tagebuch diente. Damals hätte ich gern in einer
anderen Stadt gelebt. In New York zum Beispiel, wo, wie der Dichter
Ron Winkler weiß, die "Gehwege wie aus Amphetamin"
sind. Oder wenigstens in Recklinghausen. Es ist ja kein Wunder,
dass die Texte über Städte in der abwechslungsreichen
Anthologie Schau gen Horizont und lausche von Berlin und
Calcutta, von Valencia und Bern handeln, aber nicht von Wanne-Eickel
oder Wattenscheid. Ein mit Cannabis versetztes Joghurtgetränk,
wie es Matto Kaempf in der indischen Pilgerstadt Varanasi zu sich
nimmt, würde man hier vergebens suchen. "Die Stadt lag
uns schon immer am Herzen", schreiben die Herausgeber in
ihrem Vorwort. Aber sind Provinzstädtchen, wo man schon aus
dem Häuschen gerät, wenn ein neuer Supermarkt aufmacht,
hier mitgemeint?
Ich merke, wie die Erinnerung an mir nagt. Selbst in den Jahren,
die ich studierend in der Großstadt Bochum verbrachte, wurde
ich Oer-Erkenschwick nicht los. Ich saß in meinem Zimmer
im Studentenwohnheim, spielte die Platten von Soft Machine in
der Reihenfolge eins bis sieben ab und dachte an John Fogerty
und CCR. Ich trug bunte Hemden aus Indien zu Levi's- und Wrangler-Jeans
mit Schlag, aber fühlte mich, als ob ich noch immer in dem
alten C&A-Parka steckte. Irgendwann ließ ich mir einen
Vollbart stehen und zog zurück nach Oer-Erkenschwick, wo
ich damit begann, Bücher zu lesen, fernzusehen und Modellflugzeuge
zu basteln. Und gleich gehe ich einkaufen. Bei NETTO.
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: Coolness.
Über Miles Davis. 168 Seiten. Rogner & Bernhard
bei 2001. Berlin 2009. € 16,90.
: Abweichen.
Über Bücher, Comics, Musik. 132 Seiten. Erata.
Leipzig 2009. € 14,95.
(Hrsg.): Schau gen Horizont und lausche. Über
Städte. 160 Seiten. Asphalt & Anders. Hamburg
2009. € 11,90.
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