In Leipzig ist Buchmesse. Ich bin nicht dabei.
Im Fernsehen wird der sympathische Erzähler Clemens Meyer
gezeigt. Er springt vor Freude in die Luft, als ihm ein Buchpreis
zuerkannt wird. Im Gespräch mit dem Kultursachverständigen
Scobel erklärt der glückliche Meyer, wie sich Alltagsbegebenheiten
in Geschichten verwandeln. Sehr schön, denke ich, hoffentlich
haben viele dieses Lob des Erzählhandwerks gehört.
Ich bekomme keine Preise. Selbst bei Modellflugwettbewerben gehe
ich leer aus. Deshalb befremdet mich die Einladung eines Herrn
Büchner, an einem "Lyrikprojekt" teilzunehmen,
ein wenig. Herr Büchner ist Verleger und Herausgeber der
"Bibliothek deutschsprachiger Gedichte" und spricht
seine Adressaten als "Kenner und Liebhaber der deutschen
Sprache" an. Mit einem "selbstverfassten Gedicht zu
einem Thema Ihrer Wahl", schreibt er, habe man die Chance
auf "attraktive Preise im Gesamtwert von rund 6.000 Euro".
Außerdem bietet der rührige Lyrikkaufmann einen Service
für Dichter an, die sich über die Qualität ihrer
Produkte nicht im Klaren sind.
Leider schreibe ich überhaupt keine Gedichte. Und wenn ich
es täte, würde ich auf keinen Fall 95 Euro für
ein zweieinhalbseitiges Gutachten über mein lyrisches Erzeugnis
ausgeben wollen. Selbst die zehn Euro für ein "Basis-Gutachten"
wären wahrscheinlich besser in die Aufstockung meiner Vorräte
an arabischem Gewürztee investiert. Denn zufällig habe
ich die vor sieben Jahren erschienene vierte Ausgabe der damals
noch großspurig Nationalbibliothek des deutschsprachigen
Gedichts betitelten Anthologie vor mir liegen und stoße
beim willkürlichen Blättern auf Zeilen wie "Gefangen
in der Stadt / zwischen Raum und Zeit / eingebettet in harten
Beton / ohne jede Hoffnung auf Befreiung". Dem Verfasser
wäre mit einer Schlagbohrmaschine wahrscheinlich besser gedient
gewesen als mit einem, wie auch immer gearteten, Gutachten.
Ich selbst befreie mich übrigens aus solchen Zuständen
gewöhnlich, indem ich einige der unverlangt eingesandten
Lyrikbände, die mir die Redaktion dieser Zeitschrift zur
Begutachtung anvertraut hat, in die Altpapiertonne werfe. Dann
setze ich mich an die Schreibmaschine und kopiere einige schöne
Sätze aus der Tagespresse. "Das Schlagzeilengewitter
nahm an Stärke zu und seither auch nicht wieder ab",
hieß es beispielsweise vor einigen Wochen in der "Welt".
"Sie färbte sich die Haare, rasierte sich den Kopf kahl
und tätowierte sich ein Sternchen auf die Hand. Zuletzt zeigten
die Handybilder sie verheult am Straßenrand. Die Rede war
von Drogen und von einem windigen Manager namens Sam Lufti."
Das ist wahre Poesie. Wie gerne würde ich solche Zeilen zu
Papier bringen. Allein, wo steckt die Britney Spears des Literaturbetriebs,
kahlköpfig, tätowiert und verzweifelt? Clemens Meyer
hat sich die Haare wachsen lassen, versteckt seinen Hautschmuck
unter langärmeligen Hemden und ist offenkundig ein ziemlich
fröhlicher Geselle. Und Charlotte Roche, die mit ihrem proktologischen
Bestseller Feuchtgebiete selbst die feinsinnigsten Feuilletonisten
zum Schwärmen bringt, zeigt sich in Interviews gewöhnlich
gutgelaunt und reizt höchstens mit dem Bekenntnis, der Roman
sei zu 70 Prozent autobiographisch, zu anrüchigen Spekulationen.
Aber was erzähle ich da? Mein schriftstellerischer Idealtypus
ist doch eigentlich von ganz anderer Statur. Ein Mann nämlich
wie Charles Chadwick, der im Alter von
72 Jahren mit einem Roman debütierte, an dem er fast drei
Jahrzehnte gearbeitet hatte. Ein unauffälliger Mann
lautet der treffende deutsche Titel dieses mehr als 900 Seiten
starken Werkes, in dessen Mittelpunkt der kaufmännische Angestellte
Tom Ripple steht. Zu Beginn des Romans, es sind die siebziger
Jahre des vergangenen Jahrhunderts, arbeitet er für eine
internationale Handelsgesellschaft, lebt im Großraum London,
ist verheiratet und hat zwei Kinder. Später begegnet er uns
als alleinstehender Pensionär, seine Frau hat ihn verlassen
und die Kinder sind erwachsen, in einem kleinen Ort in Suffolk.
Und er schreibt auf, was geschieht. Denn Ripple ist nicht nur
die Hauptfigur dieses Romans, sondern auch sein fiktiver Autor.
Alles zu registrieren, was um ihn herum vorgeht und dann in eine
lesbare Form zu bringen, ist seine geheime Leidenschaft. Dabei
erweist er sich vor allem als ein Meister der kritischen Selbstreflexion:
"Da ich dies nun anhand meiner Notizen niederschreibe, kann
ich alles aus einer gewissen Distanz betrachten und sagen, dass
meine Selbstachtung einen leichten Schlag abbekommen hat, aber
ich könnte mich auch mit dem Gedanken trösten, dass
diese Leute auf die eine oder andere Art ziemlich fürchterlich
(irregeleitet, herablassend?) waren. Könnte ich das wirklich?"
Chadwick zeigt, wie eine durchschnittliche Biographie durch ihre
Literarisierung Bedeutung gewinnt, ohne dass mit abgegriffenen
Metaphern hantiert würde. Man mag sich gar nicht vorstellen,
was ein Lyriker Tom Ripple so alles zusammengedichtet hätte.
Als Chronist aber ist er uns hochwillkommen, da er es versteht,
unser Interesse an den Dramen des Alltäglichen über
so viele Seiten hinweg wachzuhalten. Weniger begeistert bin ich
von der Übersetzung durch Klaus Berr, die sich einerseits
zu wenig von den idiomatischen Vorgaben des Englischen löst,
andererseits aber mit Vokabeln aufwartet, für die nord- und
westdeutsche Leser zum Wörterbuch greifen müssen. Nachdrücklich
empfohlen sei deshalb hier das englische Original mit dem schönen
Titel It's All Right Now.
Trotz aller Sympathie übrigens, die Tom Ripple im Verlauf
des Romans für sich zu mobilisieren versteht, gehörte
meine wirkliche Zuneigung in den letzten Monaten einer anderen
Romanfigur: Frederick Tubb heißt der Unglücksrabe,
ein neunzehnjähriger korpulenter Studienabbrecher, der eine
zentrale Rolle in Claire Messuds Gesellschaftssatire
Des Kaisers Kinder spielt. Als wir ihm zum ersten Mal begegnen,
liegt er gerade in der Badewanne und versucht, David Foster Wallace'
tausendseitiges Epos Infinite Jest zu lesen, wobei er sich
vorstellt, das dicke Buch einfach ins Wasser fallen zu lassen.
Bootie, so lautet sein unseliger Spitzname, hat ein großes
Leseprogramm: Moby Dick, Die Enden der Parabel,
Krieg und Frieden. Später kommt noch Musils Mann
ohne Eigenschaften hinzu. Man kann sich ausrechnen, dass die
ehrgeizigen Lektürepläne scheitern. Und erkennt sich
selbst für einen kurzen Augenblick in diesem Unglücksraben.
Dann nimmt man die Fernbedienung zur Hand und beobachtet traurig,
aber auch erleichtert, wie in den Leipziger Messehallen Neuerscheinungen
in die Luft gehoben werden.
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