Links:

Residenz
Günther Eisenhuber
Jung und Jung
H. C: Artmann
The Overlook Press
Ved Mehta
Erwin Einzinger

 
Fritz Müller-Zech 49
Die Kolumne
 

Manchmal erreichen bedrohliche Schreiben die Erker-Redaktion. "Sie haben in den letzten zwei Jahren zehn Bücher unseres Verlages erhalten", wird da geklagt, "aber uns ist bislang kein Beleg einer Besprechung in Ihrer Zeitschrift zugegangen". Die zuständigen Redakteure halten sich mit solchen Briefen meist nicht lange auf, sondern leiten sie umgehend an mich weiter. Leider muss ich nicht selten feststellen, dass die Mahnungen ihre Berechtigung haben. Unbesprochen und von Sägespänen fast verdeckt verharrt ein gutes Dutzend Bücher in einem Regal rechts von meiner Werkbank. Und mich packt ein schlechtes Gewissen. Schuldbewusst lege ich die Feile zur Seite, greife eins der vernachlässigten Druckwerke, blase den Staub vom Einband und beginne zu lesen.
Privat lautet der schlichte Titel des Buches, das verspricht, über den "Alltag der Dichter und Denker" zu informieren, ein Thema, das mich seit langem interessiert. Geldnot und Nikotinsucht, Impotenz und Verdauungsbeschwerden, Alkoholismus und Onanie - es ist schon verwunderlich, unter welch bemerkenswerten und oft auch erbarmungswürdigen Umständen manch großes Werk das Licht der Welt erblickte. Robert Musil mied öffentliche Bibliotheken, weil er dort nicht rauchen durfte. Gottfried Benn fand sich "moralisch gehoben", wenn er vier Tage lang auf Bier verzichtet hatte. Novalis verbrachte ganze Tage in einsamer Lüsternheit. Und Franz Kafka, der überzeugte Reformköstler, quälte sich gerne mit der Vorstellung, deftige Würste, fettes Rippenfleisch und saure Gurken zu verschlingen. Ein junger Mann namens Günther Eisenhuber, der sich selbst als "Knecht des Alltags" bezeichnet, hat die entsprechenden Tagebucheintragungen und Briefauszüge thematisch geordnet und zu einem sehr kurzweiligen Bändchen zusammengestellt. Ich habe es direkt von der Werkstatt auf meinen Nachttisch verfrachtet, um gelegentlich vor dem Einschlafen darin zu lesen.
Dort liegt es neben einer Sammlung von Briefen, die der Dichter H. C. Artmann in den sechziger Jahren an seinen Freund, den Theatermann Herbert Wochinz, geschickt hat. Oft geht es um die Theaterstücke, die Artmann für Wochinz übersetzte, noch öfter aber um die Honorare, die er für diese Arbeit bekommen sollte. Denn der literarische Tausendsassa war ständig in pekuniären Nöten, zumal wenn er sich gerade auf der Flucht vor der österreichischen Justiz befand, die versuchte, ausstehende Alimente einzutreiben. "Bitte schreib mir doch sofort, was mit dem geld los ist", fordert in charakteristischer Kleinschreibung eine Epistel vom 25. Juli 1962. Ein Jahr später untermalt der arme Autor sein Anliegen mit dem Hinweis, er gehe "auf einem paar löchrigen socken" und habe bereits "ganze 6 kilo abgenommen", während es im September 1965 wieder schlicht heißt: "UND: krieg ich das geld?" Eine Formulierung, die ich mir für meine nächste Mail an die Betreiber dieser Zeitschrift bereits notiert habe.
Erfolg werde ich damit wohl nicht haben, denn bekanntermaßen ist Am Erker arm wie die sprichwörtliche Kirchenmaus. Wie viel besser hatten es da die Mitarbeiter des legendären New Yorker, der in diesen Tagen achtzig Jahre alt wird. Bereits 1960 erhielt der Schriftsteller Ved Mehta, damals Mitte 20, für einen Reisebericht die stolze Summe von $ 1800. Und das war erst der Anfang. Viel beeindruckender als die Honorare ist allerdings der Umgang, den William Shawn, der langjährige Chefredakteur des Wochenmagazins, mit Manuskripten pflegte. Mehta erinnert sich an zweistündige Telefonate, in denen es ausschließlich um die korrekte Interpunktion ging. Ein ganzer Stab von Mitarbeitern war ausschließlich damit befasst, Beiträge immer wieder gegenzulesen. Viermal erhielt Mehta Korrekturfahnen seines jeweils neu gesetzten Textes. Nicht immer waren die Änderungsvorschläge rein stilistisch motiviert. So wurde aus dem Griff an die Hoden, mit dem sich ein wütender indischer Taxler eines unerwünschten Fahrgastes entledigt, ein Griff an die Hüfte.
Heute würde niemand mehr an einem solchen "klinischen Ausdruck", wie ihn Shawn bezeichnete, Anstoß nehmen, aber leider ist mit der Prüderie offenbar auch die Sorgfalt im Umgang mit Texten verschwunden. Wenn ein Autor nicht weiß, dass es "der" und nicht "die Abscheu" heißt, wäre es Sache des Lektorats, diesen Fehler zu korrigieren. Wenn ein Literaturredakteur behauptet, jemand habe "Schuld dafür" und ein Kolumnist vom "Respekt für" jemanden spricht, sollte ein Korrektor eingreifen. Leider geschieht das nicht. Kein Geld, keine Zeit. Selbst nur halbjährlich erscheinende Literaturzeitschriften leisten sich, sogar auf dem Umschlag, Druckfehler. Und den Konjunktiv gebraucht auch niemand mehr korrekt. Man möchte krank werden, sich ins Bett legen und mit Arthur Schnitzler ausrufen: "Überflüssigkeit, Magenschmerzen und Verblödung". Dummerweise ist das Pflichtgefühl stärker, die Hand greift beinahe automatisch nach einem dicken Buch, das seit Wochen unbeachtet neben einem Stapel Handtücher gelegen hat, und befördert es aufs Beistelltischchen. Schon bald finde ich heraus, dass es sich um eins jener schönen Werke handelt, bei dem man an beliebigen Stellen zu lesen beginnen kann, da es sich um eine dem Assoziationsprinzip gehorchende Kompilation von Geschichten handelt, die durch ebenso assoziativ gesetzte Fußnoten ergänzt werden. Von einem tatsächlichen Hühnerstall ist es eben nur ein kurzer Weg bis zur englischen Bluesgruppe "Chicken Shack", und wer vom englischen Bergarbeiterstreik Mitte der achtziger Jahre spricht, muss auch den Protestsänger Billy Bragg erwähnen. Endlich habe ich ein Buch gefunden, das sich noch besser als Einschlafhilfe eignet als die Tagebucheintragungen kranker Dichter, zumal man bei jedem Lektüreversuch etwas Interessantes erfahren kann. Also kommt auch Erwin Einzingers Aus der Geschichte der Unterhaltungsmusik griffbereit auf den Nachttisch. Später in der Werkstatt träume ich mit offenen Augen von Tausenddollarschecks und einem Redakteur, der mit mir die Kommasetzung in dieser Kolumne diskutiert.

 

Günther Eisenhuber (Hrsg.): Privat. Aus dem Alltag der Dichter und Denker. 208 Seiten. Salzburg / Wien. Residenz 2004. € 19,90.

H. C. Artmann: Ich brauche einen Wintermantel etz. Briefe an Herbert Wochinz. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Alois Brandstetter. 93 Seiten. Wien / Salzburg. Jung & Jung 2005. € 17,00.

Ved Mehta: Remembering Mr. Shawn's New Yorker. The Invisible Art of Editing. 414 Seiten. Woodstock, New York. The Overlook Press 1998. $ 16,95.

Erwin Einzinger: Aus der Geschichte der Unterhaltungsmusik. Roman. 534 Seiten. Salzburg / Wien. Residenz 2005. € 24,90.