Sie begegnen sich 1870 als junge Professoren in Basel, zu Freunden werden sie nicht zuletzt, weil sie als "möblierte Herren" in derselben Villa Wand an Wand wohnen. Rasch entdecken sie ihre Sympathie füreinander, nehmen die Mahlzeiten gemeinsam ein und schärfen ihre unzeitgemäßen Gedanken im täglichen Gespräch: Friedrich Nietzsche, staunenswert junger Professor der Klassischen Philologie, und der sieben Jahre ältere protestantische Theologe Franz Overbeck. Beide lehren sie eher lustlos, die Leidenschaft gilt den eigenen Schreibprojekten.
Ihre Herkunft könnte unterschiedlicher kaum sein: Während Nietzsche, allen kosmopolitischen Selbstinszenierungen zum Trotz, lebenslang der deutsche Provinzler bleibt, ist Overbeck, als Sohn eines Deutschen und einer Französin in Sankt Petersburg geboren und dort sowie in Paris und Dresden aufgewachsen, ein umfassend gebildeter, polyglotter Europäer. Ähnlich sind sie sich im Zorn auf ihre Zeit, deren Heuchelei sie vom Schreibtisch aus bekämpfen wollen. Zu mitreißenden Auftritten in der Öffentlichkeit fühlen sich beide nicht berufen – Der ängstliche Adler lautete der treffende Titel einer Nietzsche-Biographie, und auch Overbeck ballt die Faust lieber in der Tasche. Obwohl "die Freundschaft für keinen von beiden Teilen leicht geworden", wie Overbeck später bekennt, hält sie lebenslang ohne Krisen. Das ist umso bemerkenswerter, als das Von Gleich zu Gleich der Freunde nach fünf Jahren endet. Nietzsche zieht fort, um zu demonstrieren, "wie man wird, was man ist": ein Genie. Overbeck resigniert und bleibt. Von Basel aus sorgt er für die Finanzen des rastlos Umherziehenden. Mit Sorge registriert er, wie der Freund sich radikalisiert, indes die erhoffte Resonanz auf sich warten lässt. Als die Nachricht von Nietzsches Zusammenbruch eintrifft, macht sich Overbeck sofort nach Turin auf, holt den Verstörten in die Schweiz und birgt auch den umfangreichen Nachlass. Diesen vor den Stilisierungen und Fälschungen des Weimarer Nietzsche-Archivs zu retten, bleibt Overbeck, so konziliant er sonst ist, geradezu wild entschlossen. Das trägt ihm zu Lebzeiten heftige Anfeindungen, ein halbes Jahrhundert später bewundernde Hochachtung ein.
Wie kein anderer also ist er prädestiniert, ein Portrait des Freundes zu zeichnen, und hat dies auch als eine seiner Lebensaufgaben verstanden. Jahrelang arbeitet er an Notizen zu Nietzsches Person und Werk, die er auf Karteikarten sammelt, aber nicht zu Lebzeiten veröffentlicht sehen will. Stattdessen autorisiert er seinen Schüler Carl Bernouilli, daraus einen Text zu destillieren. Knapp sechzig Seiten lang, erscheint er nach Overbecks Tod 1905 in der Neuen Rundschau bei S. Fischer und wird nun in der schönen Essay-Reihe des Berenberg-Verlags wieder zugänglich gemacht. Aufregend und ergreifend sind diese Erinnerungen an Nietzsche nicht nur der illustren Bezugsperson wegen, sondern weil Overbeck in einem leidenschaftlichen Subtext auch sich selbst erzählt: Wie rette ich mich, wie rechtfertige ich mich, ja, wer bin ich überhaupt angesichts des Anderen, Übermächtigen? Eine Thomas Mannsche Geschichte über Kunst und Leben rumort da im Untergrund, ein Kurzroman über das Außerordentliche und die Wonnen der Gewöhnlichkeit. Wie kann man die Freundschaft bewahren zu dem, der einen durch sein bloßes Dasein immerzu an die eigene Durchschnittlichkeit erinnert? In der Schärfe des Blicks ist Overbeck Nietzsche ebenbürtig, und schon der Eröffnungssatz zeigt, dass er zu kühnen Urteilen fähig ist: "Nietzsche war kein im eigentlichen Sinne großer Mensch". Wie bitte?! Welcher Denker hätte denn eine solche Wirkungsgeschichte erzeugt, womit nicht nur der Himalaja an Sekundärliteratur gemeint ist, sondern der Einfluss auf das Lebensgefühl ganzer Generationen? Trotzdem: nicht groß? Noch heute stockt da dem Leser der Atem, und er versteht, dass sich der scheue, empfindsame Overbeck dem Geschrei, das dieser Satz bei den "Adepten" ausgelöst hätte, nicht gewachsen fühlte.
Wer es bloß zu einer wenig glanzvollen Professorenexistenz brachte, macht sich durch solche Paukenschläge verdächtig. Niemand hat das deutlicher gespürt als Overbeck selbst, kaum jemand sich intensiver darum bemüht, dem Freund, dem Menschen gerecht zu werden. Während Nietzsche, von Kopfschmerzen und Beziehungskatastrophen gepeinigt, von einer Stadt zur anderen irrt, nach Anerkennung und Ruhm giert, Verdikte schmettert und sich in Werken und Briefen einen immer gewaltiger werdenden Sockel errichtet, beharrt Overbeck auf dem Maßvollen, Differenzierten. Ihm fehlte, um es mit einem Lieblingswort des 19. Jahrhunderts zu sagen, alle Prätension. Sein Ehrgeiz zielt nicht auf Entlarvung und Sensation, sondern auf eine eher unspektakuläre Wahrheit. Hartnäckig verteidigt er den Anspruch der kritischen Vernunft, des nüchternen Urteils gerade gegenüber einem Geist wie Nietzsche, der nicht von ungefähr in wahnhafter Selbstübersteigerung endete. Aus diesem Impetus entstehen die störrischen Widerworte, mit denen er den Freund gegen die eigene Kultfigur verteidigt: Nietzsche, das einsame Genie? Nichts da, er hatte der Freunde reichlich und "affektierte das Einsiedlertum". Nietzsche, der Aristokrat? Aber nein, sein Vornehmtun war eine Marotte und eine kleinbürgerliche dazu. Nietzsche, der kompromisslos radikale Wahrheitssucher? Aber gerade die Zweiteilung der Welt in Vergöttertes und Verdammtes läuft doch der vielgesichtigen Wahrheit zuwider und ist im Grunde infantil. Schließlich, vielleicht die größte Kränkung: Er weist Nietzsches Anspruch ab, aus der Zukunft zu predigen, und holt ihn zurück in die Denkmuster der eigenen Zeit.
Dies alles, wohlgemerkt, im Zeichen der Freundschaft und um deutlich zu machen: Ich habe den Menschen geliebt, wie er war, nicht das, was er "affektierte". Man spürt: Hier schreibt die skeptisch-rationale Denktradition gegen ihre Zertrümmerung durch einen singulären poser an. Allerdings lässt Overbeck auf die zweifelnde Frage nach Nietzsches "Echtheit" sofort die verblüffende Antwort folgen: "Er war alles eher als ein Schauspieler". Wie geht das zusammen? Die Antwort darauf ist, dass Nietzsche seine Denkdestruktionen mit dem eigenen Leben bezeugte und bezahlte. Dass dieser schonungslose, selbstzerstörerische Gestus allerdings (sozusagen automatisch) Wahrheit generiere und garantiere, weist Overbeck zurück und erkennt darin die Tragik des Freundes, letztlich aber auch die eigene und die des Jahrhunderts, dem "das Bestreben nach Größe" mehr gilt als diese selbst. Overbeck wusste sich als Verlierer, auch er fühlte sich einsam und verkannt. Glück, definiert er, "Glück ist an unserem Leben das, was uns andere als wir weder gleichzuschätzen noch überhaupt nachzuschätzen vermögen". Also das, was sich, entgegen dem Sprichwort, überhaupt nicht teilen, nicht einmal mitteilen lässt, womit man notwendig allein bleibt? Es kommt noch härter: "Glück ist der unserer Person vorbehaltene Winkel des Daseins zur Selbstbehauptung selbst gegen Menschen, die wir sonst unendlich hoch über uns stellen. So habe ichs in meinem Verhältnis zu Nietzsche erfahren." Glück also nicht mit dem Freund oder in der Freundschaft, sondern als geradezu nach Luft schnappendes Beharren auf dem Eigenen, vom Schatten des Genies Verschonten. Das klingt als Lebensbilanz eher schauerlich. Aber gemeint hat Overbeck mit diesem eigenen "Winkel des Daseins" auch seine Ehe mit der verständnisvollen, klugen Ida Rothpletz, also ein Glück, um das ihn Nietzsche wohl beneiden konnte.
In einem Brief an seine Schwester zieht dieser 1885 ebenfalls Bilanz: "... ich bin lächerlich glücklich gewesen, wenn ich mit irgendjemandem irgendein Fleckchen und Eckchen gemein fand", also auf gemeinsame Ansichten und Schwingungen traf. "Fast alle meine menschlichen Beziehungen sind aus den Anfällen des Vereinsamungsgefühles entstanden", gesteht er und zählt Overbeck ausdrücklich dazu. Auch diese Freundschaft ist also eine "faute de mieux", weil ein Besserer, Ebenbürtiger fehlte. Auch gegenüber Overbeck konnte es keine "Mitteilung geben". Man kann nur hoffen, dass Overbeck nie von diesen Worten erfuhr. Heinrich Deterings Nachwort trägt nicht umsonst den Kafka-Titel "Beschreibung eines Kampfes". In kritischer Empathie analysiert es die Beziehung dieser ungleichen Freunde bis in die Paradoxien hinein. Zu Recht betont Detering den skizzenhaften, modernen Charakter der Erinnerungen an Nietzsche, das Oszillieren zwischen apodiktischen Urteilen und einschränkenden Andeutungen, wie es der zurückhaltenden, dann aber plötzlich dem Grimm nachgebenden Natur ihres Autors entsprach. Wie nebenbei erklärt sich Detering, der Deutende, zur weiteren "Romanfigur" in der Nachfolge seiner beiden Protagonisten und integriert damit auch die Leser in einen Prozess der Teilnahme an dieser berührenden Freundschaft. |