Oben wird geprobt. Im Bochumer Schauspielhaus
soll es zu Beginn der Spielzeit eine Bühnenversion von Lewis
Carrols Alice im Wunderland geben. Die Kammerspiele werden
mit Shakespeares König Lear eröffnet. Irgendwo
dazwischen, im Niemandsland unter den Brettern, die die Welt bedeuten,
sitzt Wolfgang Welt - Nachtportier, ehemaliger Musikjournalist
und Ruhrgebietskultautor. Ich besuche ihn gegen 22.00 Uhr, zu
Dienstbeginn.
Wolfgangs Wunderland liegt hinter einer Glasscheibe. Wenn man
von der Straße aus in die Pförtnerloge eintreten will,
muss man warten, bis ein Summer betätigt wird. Dann geht
man zweimal um die Ecke. Wolfgang empfängt mich freundlich,
ungewohnt bärtig auf halbem Wege und bietet mir den bequemen
Drehstuhl an. Hier sieht es noch ziemlich genauso aus wie Anfang
der Achtziger, als Wolfgang Welt zum ersten Mal seinen Dienst
angetreten hat. Die Flachbildschirme, auf denen man die stereotypen
Bilder von Überwachungskameras verfolgen kann, wirken irgendwie
deplatziert und anachronistisch - fahle Schatten vor grauen Wänden.
Es ist noch lebhaft hier; dauernd kommt jemand rein und gibt irgendwelche
Schlüssel ab, die auf einer Liste (handschriftlich) registriert
werden. Es mögen Dramaturgen und Techniker sein, Beleuchter
und Schauspieler. Dabei ergeben sich kurze Gespräche, Smalltalk
beim Schichtwechsel. "Ich hab da noch eine Pistole für
dich." - "Die brauche ich erst morgen."
Im Radio plätschert WDR 4. Etwas entschuldigend erklärt
mir Welt, dass er immer diesen Sender auf der Arbeit höre.
Es läuft "Musik zum Träumen". Danach ist mir
nicht zumute, ich kenne keinen der Songs, und die Interpreten
sagen mir auch nicht viel. Allerdings erinnere ich mich, warum
ich hier bin, und fange etwas holprig an zu fragen. Welchen Kindheitsidolen
ist der Autor aus dem östlichen Bochumer Stadtteil Langendreer
nachgeeifert?
Old Shatterhand und Winnetou haben in Welts Welt keine Rolle gespielt.
Als seine Klassenkameraden dem "Geist des Llano Estacado"
nachspürten, wurden auf der Wilhelmshöhe andere Geschichten
geschrieben. Hier schoss man nicht "unter Geiern" in
die Stirn, sondern auf Schuppenwände. Fußball im Bochum
der frühen sechziger Jahre hieß noch nicht so sehr
VfL, sondern auch Langendreer 04 gegen SUS Wilhelmshöhe.
In Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe hat Welt "einigen
Leuten ein Denkmal" gesetzt, "die sonst nicht mal einen
Grabstein kriegen würden". Es geht um die Jugendmannschaft
des SUS, in der auch der Bruder des Autors spielte. Neben der
Leidenschaft zum Ball verband ein paar Jungs auch die Liebe zur
Musik und ihren Machern und insbesondere zu dem amerikanischen
Rock n Roller Buddy Holly. Auf der Raupe - so harmlos
hießen damals Kirmesfahrgeschäfte - hatte man dessen
Song "Brown-Eyed Handsome Man" zum ersten Mal gehört.
Schnell war der Buddy-Holly-Club gegründet, und im ortsansässigen
Plattenladen gingen Singles wie "Peggy Sue", "Rave
On" und "Oh Boy" über die Theke. Örle
Welt, der große Bruder, war Mitinitiator des Ganzen und
hat die Leidenschaft an den Jüngeren weitergegeben. Da war
Buddy Holly schon vier Jahre tot, was die Jungen allerdings gar
nicht wussten. Abgestürzt in den Maisfeldern von Iowa. Die
Liedzeile "the day the music died" aus Don McLeans "American
Pie" hat diesen Tag musikalisch verklärt. Irgendwann
kapierte man das auch in Bochum-Langendreer. Ohne Buddy Holly
aus Lubbock, Texas, hätte es Wolfgang Welt so nicht gegeben,
wird dieser später schreiben.
Buddy Holly war für Wolfgang Welts literarisches Schaffen
Zündkerze und Benzin zugleich. In den Musikrezensionen, die
er für Sounds, Musikexpress und Marabo schrieb, hat er immer
wieder Bezug auf Holly und seine Songs genommen. Viele der kurzen
Geschichten sind von den frühen Rock-'n'-Roll-Erlebnissen
geprägt. Sein erster Roman heißt schließlich
Peggy Sue, nach dem Buddy-Holly-Hit. Dass dieser mittlerweile
im Suhrkamp-Verlag - in der Sammlung Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe
- erschienen ist, hat Wolfgang Welt unter anderem Peter Handke
zu verdanken. Durch den berühmten Kollegen ist er zu dem
Traditionshaus gekommen - aber nicht nur das. Handkes Erzählung
Die Angst des Tormanns beim Elfmeter hat Welts Interesse
an Literatur überhaupt geweckt. Stilistisch beeinfusst hat
er ihn allerdings nicht. Da ist Welt dem schwäbischen Autor
Hermann Lenz viel näher - innerer Dialog bis hin zur autobiographischen
Selbstentblößung gelingt bei Lenz für Schwaben
und bei Welt fürs Ruhrgebiet. Welt hat Lenz einige Male in
München besucht, man verstand sich, was Wolfgang freute.
Aber der macht sein eigenes literarisches Ding. Man mag die Art
und Weise, wie er schreibt, vielleicht als Pop-Literatur bezeichnen.
Von der Popliteraten-Szene ist er allerdings nur am Rande wahrgenommen
worden. Vielleicht weil seine Themen (der Sex, die Musik, das
Schreiben und der Wahn) in ihrer Deutlichkeit Mitte der achtziger
Jahre, als seine ersten literarischen Texte entstanden, für
eine große Öffentlichkeit noch nicht verbuchbar waren.
Welt verknüpft das Ruhrgebiet in seiner Prosa zu einem schimmernden
Gewebe aus Fäden dieser vier Spulen. Der Held in den Storys
ist immer er selbst. Dazed and confused mäandert er zwischen
den Polen seiner unsicheren Welt. Im Elternhaus auf der Wilhelmshöhe
herrschen scheinbarer Halt und Sicherheit. Die Kneipen und Diskos
in Bochum schaffen immer wieder Ablenkung. Die Ruhr-Uni steht
als Symbol für das grandiose Scheitern eines anders Begabten.
Bochum ist die Bühne für Wolfgang Welts schonungslose
Wirklichkeit. Allerdings ist es mit Fiktion und Realität
so eine Sache. Der Autor verarbeitet den eigenen Weg in den Wahnsinn,
und manchmal ist die erlebte Wirklichkeit zum Schreien komisch
und schöner zu lesen als die Fiktion. In seinem neuesten
Roman landet Welt dort, wo er heute noch immer ist, als Nachtpförtner
im Schauspielhaus. Der Romantitel rührt von einer Schmiererei,
die Welt im Wahn an irgendeiner Wand der Bochumer Ruhr-Uni aufgefallen
ist. Doris hilft ist Menetekel und Mantra eines Getriebenen,
der durch die Ruhrgebietswildnis zieht. Der ewige Steppenwolf.
Gefragt nach weiteren Vorbildern, nennt Welt Hermann Hesse. Aber
den hat er nicht in der Schule gelesen. Wahre Identifikation findet
eben nur zu Hause unter der Bettdecke statt.
Manchmal bekommt Welt im Schauspielhaus eine Bühne. Im "Theater
unter Tage" hält er Lesungen, und in der letzten Spielzeit
der Hartmannschen Intendanz hatte er dort einen Kurzauftritt in
Eugene O'Neills Zwei-Personen-Stück Hughie. Dort spielte
er - wie könnte es anders sein - einen Portier. Einmal ist
er dort zusammen mit einem anderen seiner Idole aufgetreten: Welt
hatte in London um ein Autogramm des englischen Musikers Phillip
Goodhand-Tait gebeten. Er war geradewegs am Piccadilly Circus
in dessen Plattenfirma gelaufen, und man sagte ihm zu seiner Überraschung,
er möge nur kurz warten, Goodhand-Tait sei nebenan. Der Kontakt
ist nie abgerissen, und vor ein paar Jahren haben die beiden im
TuT von der Geschichte ihrer Freundschaft erzählt: musikalisch
Goodhand-Tait, der natürlich ein bisschen wie Buddy Holly
klang (Plattentitel: An Evening with 'Peggy Sue'), und
Wolfgang Welt als Chronist seiner selbst.
Wie wird es literarisch weitergehen? Noch ein Roman ist bei Suhrkamp
geplant. Auch ein Fußball-Buch möchte Wolfgang Welt
schreiben, aber das Projekt hat er erst einmal hintangestellt.
Damit würde er einigen Leuten zu sehr auf die Füße
treten, wegen dem ganzen Sex ...
Auf dem Weg zum Auto komme ich an einem Plakat mit der Ankündigung
zu König Lear vorbei und erinnere mich, dass ich einmal
eine mündliche Examensprüfung darüber absolviert
habe. Der Narr in dem Stück ist einer, der dem König
unverblümt die Meinung sagen kann, einer, der um Versautheiten
zum richtigen Zeitpunkt nicht verlegen ist. Er kann den Untergang
eines Königreiches beschwören, ohne Konsequenzen zu
fürchten. Nach Ambrose Bierces Devil's Dictionary
ist der Narr derjenige, welcher in des Menschen Dämmerung
den Sargdeckel zumacht, um danach die Geschichte der menschlichen
Zivilisation aufzuschreiben. Willi Winkler nennt Wolfgang Welt
im Nachwort zu Doris hilft zwar nicht den Narren, aber
etwas ironisch den "Chronisten des Bochumer Niedergangs".
Denkt man an den Bergbau, an Nokia, Opel und den VfL, dann könnte
er sogar recht haben.
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