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Über Hörbücher
Tobias Lehmkuhl
 

Der Hörbuch-Hype ist ein seltsames Phänomen. In den letzten zehn Jahren hat sich der Umsatz in diesem Marktsegment verzwanzigfacht. Spezialisierte Verlage sind wie Pilze aus dem Boden geschossen, und die Menge an Neuerscheinungen ist kaum mehr überschaubar. Die Frage, was für den plötzlichen Erfolg des Hörbuchs verantwortlich ist, drängt sich auf, lässt sich aber kaum beantworten. Verschiedene Faktoren dürften daran beteiligt sein. Einer aber kann von vornherein ausgeschlossen werden: Der Erfolg des Hörbuchs ist nicht Ausdruck zunehmender Leseunlust. Niemand, der einmal ein Hörbuch gehört hat, kann ernsthaft glauben, die Hörversion eines Romans - sei sie auch gekürzt - wäre schneller und einfacher verdaulich als das Original. Und Klassiker-geplagte Schüler rennen nicht in Massen in die Buchhandlungen, um sich augenschonende Faust-Hörbücher zu kaufen.
Vielmehr sind die Bestseller auf den Buch- und Hörbuchhitlisten nahezu identisch. Was gehört wird, wird also auch gelesen. Umgekehrt bedeutet das: Was gelesen wird, will auch gehört werden. Gefällt ein Buch, so hat man es früher zweimal gelesen. Nun aber ergreift man die Möglichkeit, das Erlebnis in der Wiederholung mit etwas Neuem und zugleich Fremdem zu würzen: der Stimme und Interpretation eines Vorlesers. So bleibt einem jenes "das hatte ich mir ganz anders vorgestellt" erspart, das jede Literaturverfilmung unweigerlich begleitet. Gleichwohl werden die Bilder im Kopf durch den Vortrag angeregt, modifiziert und intensiviert. Allerdings auf behutsame Art, ohne dass die visuellen Vorstellungen, die man sich beim Lesen gemacht hat, verdrängt würden.
Dennoch: Ebenso lagen die Dinge vor dreißig Jahren. Hat der Wandel vielleicht damit zu tun, dass aus der "Sprechplatte" ein Hörbuch geworden ist, was gemeinhin heißt: eine CD? Eher weniger. Ob gepresst oder gebrannt, das gesprochene Wort ist nicht billiger geworden. Und auch die Verbreitung des CD-Spielers bis ins Auto hinein dürfte kaum eine Rolle spielen. Es gab ja früher ein Speichermedium, dass man MC nannte und das in jedem guten Wagen im Dutzend unter den Bänken lag oder als Bandsalat aus Mülleimern der Autobahnraststätten spross.
Tatsächlich scheint die Annahme durchaus plausibel, dass ein paar findige Strategen des Buchmarkts ein Bedürfnis entdeckt oder zumindest verstärkt oder überhaupt erst geweckt haben, das lange Zeit keiner erkannte oder für ein solches ansah. Nicht zufällig fällt die zunehmende Verbreitung des Hörbuchs mit dem Entstehen der Lesebühnenkultur in Deutschland zusammen. Die Zeit war also reif - für etwas ganz Altes, etwas aus den Anfängen der Zivilisation, für etwas, womit heute noch jede Bildung beginnt.
Man braucht hier nicht auf die oralen Ursprünge der Dichtung hinzuweisen, aber vergessen wird leicht, dass der erste Zugang zur Literatur - im Vorschulalter - übers Ohr geschieht, über das Vorlesen und durch Hörspiele und Hörbücher pour les enfants. Vielleicht musste man den Leuten erst klarmachen, dass sie auch als Erwachsene fähig sind, Freude dabei zu empfinden, etwas vorgelesen zu bekommen. Und vielleicht ist bei zunehmendem Radiogedudel und Fernsehgeplapper der Wunsch größer geworden, sich auf das gesprochene, wohlgesetzte und wohlartikulierte Wort wieder stärker zu konzentrieren.
Wollte man die Geschichte des Hörbuchs schreiben, so eigneten sich diese Fragen höchstens als Vorgeschichte für etwas, das eigentlich eine Geschichte der Vorleser sein müsste. Aber dafür ist nicht die Zeit, denn es gibt noch keine Ästhetiken und Poetiken des Vorlesens, keine Schulen, Strömungen und Epochen des gesprochenen Worts. Und ohne diese, ohne bündeln und klassifizieren zu können, setzt sich kein Historiker an den Schreibtisch.
Der auf CD gebrannte Vortrag ist in höchstem Maße individualistisch, er hat keine Tradition und kommt ohne Vorbilder aus. Ob sich dieser Zustand einmal ändern wird, ist fraglich. In einer Hinsicht aber wäre es durchaus wünschenswert: Gewisse Standardanforderungen bräuchten nicht mehr diskutiert zu werden. So wie jeder Handwerker eine Ausbildung erfolgreich absolviert haben muss und jeder Dichter sich mit anderen Dichtern auseinandergesetzt haben sollte, könnte man auch von jemandem, der als Vorleser tätig wird, verlangen, dass er sich einer Sprecherziehung unterzogen oder sich zumindest an einer Reihe "klassischer" Hörbücher autodidaktisch gebildet hat. Das ist natürlich alles halbutopische Träumerei und hat den unschönen Beigeschmack kanonisierender Normativität. Doch gewisse Hörerlebnisse bringen einen auf solche Gedanken.
Die Rede ist von Produkten, die allein auf die Zugkraft bekannter Namen setzen, "bekannt aus Funk und Fernsehen" möchte man hinzusetzen, denn gemeint sind nicht jene arrivierten, selbst jedem Hörkostverächter geläufigen Obervorleser wie Christian Brückner, Harry Rowohlt, Otto Sander oder Gert Westphal selig, sondern diejenigen Stars, die doch nur Sternchen sind und ihren Ruhm durch alle möglichen Attribute oder Defizite, nur nicht durch die virtuose Beherrschung einer schönen Stimme erworben haben.
Der mit dem plötzlichen Erfolg des Mediums Hörbuch entstandene enorme und kaum zu befriedigende Bedarf an Sprechern ist allerdings weder Erklärung noch Entschuldigung für die Vergabepolitik mancher Verlage. Dass Verkaufszahlen und Bekanntheitsgrad des Vorlesers in engem Verhältnis stehen, scheint nahe liegend, und man kann einem profitorientierten Unternehmen kaum einen Vorwurf machen, verpflichtet es eine Viva-Moderatorin oder den Darsteller einer Vorabendsoap, um dem neuen Buch Stimme zu verleihen. Solche Produkte, die ihr Zielpublikum punktgenau im Auge haben, sind meist wenig vergnüglich, denn die Herren und Damen Vorleser erfüllen selten die gewünschten Mindeststandards. Ihnen fehlt nicht nur der intellektuelle Zugriff auf ein Werk, ein tieferes oder überhaupt "eigenes" Verstehen, das für die Formung des Vortrags unerlässlich ist, ihnen geht auch handwerkliches Basiswissen ab, jegliche Idee von den vielfältigen Möglichkeiten menschlicher Artikulation. Die Fähigkeit zur Feineinstellung der Phrasierung oder dynamischen Gestaltungswillen lässt zum Beispiel Charlotte Roche in ihrer Lesung von Nick McDonells Zwölf nicht erkennen, ja, sie lässt nicht einmal durchscheinen, dass sie existieren.
Doch nicht jeder Promi liest schlecht. Und gerade Schauspieler machen sich oft ernsthaft Gedanken über das Wie des Sprechens und den Schauspielschulen des Landes, oder zumindest den Sprecherziehern dort, einige Ehre, Boris Aljinovic und Florian Lukas mit ihrem lebendigen Vortrag von Jonathan Safran Foers Alles ist erleuchtet etwa (es sei noch eine weibliche Sprecherin erwähnt, eine Schauspielerin, die zu lesen versteht: Nina Hoss).
Die Hörbuchkritik ist in der zugleich vorteilhaften und misslichen Lage, dass es keine festen Begrifflichkeiten für die Beurteilung von Hörbüchern gibt. So herrscht eine Freiheit vor, die zu glücklichen und überraschenden Texten führen kann, die aber auch, mangels diskursiver Orientierungspunkte, ständig Gefahr läuft, am Leser vorbeizuschreiben. Darum wäre es zumindest nicht verdammenswert, bildete sich etwas aus, was als Referenzrahmen für die Produktion, Rezeption und Kritik von Hörbüchern gelten könnte. Und dazu gehörte eben auch, den Sprechern eine Gleichrangigkeit zu den Autoren einzuräumen und sie nicht, wie man es immer noch gerne mit den Übersetzern tut, zu Handlangern zu degradieren. So ließen sich, redete man von Qualität, die Namen Dieter Mann, Ulrich Matthes, Ulrich Mühe oder Helmut Vogel einsetzen. Irgendwann wüssten dann nicht nur Kenner, woran sie sind. Nennen wir es Vorlesekultur.

 

Alfred Döblin: Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord. Gelesen von Dieter Mann. Patmos Verlag. Düsseldorf 2001. € 9,95.

Jonathan Safran Foer: Alles ist erleuchtet. Gelesen von Boris Aljinovic und Florian Lukas. Deutsche Grammophon. Berlin 2003. € 26,00.

Werner Fritsch: Cherubim. Gelesen von Helmut Vogel. Der Hörverlag. München 2002. € 19,95.

Katherine Mansfield: In einer deutschen Pension. Gelesen von Nina Hoss. SOLO. Berlin 2003. € 16,90.

Nick McDonell: Zwölf. Gelesen von Charlotte Roche. Deutsche Grammophon. Berlin 2003. € 21,00.

Vladimir Nabokov: Pnin. Gelesen von Ulrich Matthes. Der Audio Verlag. Berlin 2002. € 32,95.

Antoine de Saint-Exupéry: Südkurier. Gelesen von Ulrich Mühe. Patmos Verlag. Düsseldorf 2003. € 19,95.