Eine schlaue Literaturzeitschrift sieht nicht nach richtiger Arbeit aus und lässt sich idealerweise in einem Zug durchlesen. Sie darf nicht zu dick sein, um beim Anblättern kein Übersättigungsgefühl zu erzeugen, aber auch nicht zu dünn, damit trotzdem die notwendige Illusion entsteht, man würde hier einen repräsentativen Überblick über die aktuelle Szene gewinnen.
BELLA triste z. B. hat es geschafft, sich als Vollwertzeitschrift im Happen-Umfang zu etablieren. Bella ist locker zu bewältigen. Leider nervt sie mit Editorials, die erstens viel zu lang sind und einem zweitens die Lesart der Texte erklären möchten. Wahrscheinlich resultiert das aus der jugendlichen Ernsthaftigkeit der Redakteure, die im Umfeld der Hildesheimer Uni-Schreibwerkstatt rekrutiert werden. Dann hat man's aber auch hinter sich und kann loslegen. Und in jedem Heft steht mindestens ein richtig guter Text, das ist eine sympathische Trefferrate, die Nummer elf etwa bietet die "Frösche" von Dorle Trachternach. Im Wettrennen der Diplomautoren-Organe mit Rotationsprinzip, Edit vs. Bella, holt Hildesheim hinter Leipzig kräftig auf.
Ein immer wieder interessantes Durcheinander macht den Muschelhaufen aus. Man muss sich mehrere Tage Zeit nehmen für die Jahresschrift, denn obwohl das Layout immer besser und klarer wird, hält sich der Charakter der privatesten literarischen Fundsammlung. Erik Martin, Gründer und Herausgeber seit 1969, häuft disparateste Zusammenstellungen von formal extrem unterschiedlichen Texten, Grafiken und Fotos an, und er pflegt alte Kontakte, so dass diverse exotische Sonderteile (Grönland), Erinnerungen (sehr interessant die Briefe des resignierenden Werner Helwig), Bibliografien, Eigenwerbungen, Rezensionen, Leserbriefe und Cartoons das pickepackevolle Heft überborden lassen. Immer mal wieder sind hier Erker-Autoren zu finden. Auch eine Art Fritz-Müller-Zech-Kolumne gibt es im Muschelhaufen, von Theo Breuer, allerdings ausufernd ernst, dazu mit Fußnoten, und Breuer darf außerdem noch hundert seiner Bücher auflisten, niemand weiß, warum. Kurz: Die Formlosigkeit des Muschelhaufens wird dadurch aufgefangen, dass es eben so viel zu sehen gibt, die Not ist die Tugend und der Zeitschriftentitel Programm. Erik Martin legt vorbildlich Wert auf Erstveröffentlichungen, was den Sammlerwert betont. Und wo findet man sonst Fadenheftung!
Der Sterz aus der österreichischen Literaturhochburg Graz ist zu groß, definitiv. Man muss das immer wieder erwähnen, denn dieses Kingsize-Format ist nur hinzulegen, partout nicht abzuheften, nicht in ein normales Regal zu packen und leider auch kaum zu halten. Ein fleißiges und sehr schön gemachtes Tischblatt. Felix Austria. Wenn es heißt, 'hier liegen Zeitschriften aus', sollte der Sterz dabei sein. Zwischendurch gibt es zwar auch gerne mal ein dekoratives Heft, das allein unkommentierte Amateurfotografien bringt, nur so zur allgemeinen Verwirrung, aber im Grunde handelt es sich beim Sterz um etwas frei Atmendes, mit dem ein spießiger Couchtisch sofort verdeckt wird - allerdings ist er wiederum zu groß für die Hutablage von Altyuppie-Autos.
Dagegen hat man mit dem Stint eine bremerisch solide Zeitschrift. Er muss nicht auffallen, hat es nicht nötig, bleibt allerdings auch ganz hanseatisch dem künstlerischen Risiko fern. Jahrelang war der Stint sogar dermaßen solide, dass er offenbar nicht gelesen werden sollte, denn das knochensteife Paperback hatte eine so unnachgiebige Klebebindung, dass man das Heft zum Aufklappen auseinanderbrechen musste, um links die letzten Buchstaben und rechts die ersten lesen zu können. Alle zwanzig Seiten brauchte man Kraft, um krack-krack-krack den Rücken zu knacken und tiefe Risse zu hinterlassen. Wollte der Stint gleich ins Regal gestellt werden? Vor wenigen Jahren erst hat die Redaktion ein Einsehen gehabt oder etwas gemerkt oder hat sich von der Druckerei nicht länger erpressen lassen, und nun kann man auch inhaltlich etwas dazu sagen, denn vorher las die verkrampfte Hand mit. In einer Nummer zum Thema Krimis fürchtete die Redaktion, in zu flaches Wasser zu geraten, und meinte, unbedingt ein Gegengewicht zu brauchen - es wurde ein dermaßen germanistisch geblähtes Interview mit Katharina Höcker, dass kaum eine Satire herangekommen wäre.
Zwischen den Zeilen, eine gut designte Bleiwüste, die Urs Engeler in Basel herausgibt, ist die konsequenteste Lyrikzeitschrift auf dem Markt, etwas für die Hardcoregemeinde. Die gesamte Gestaltung redet von Arbeit, es ist die blanke Beschäftigung mit hoher und/oder experimenteller Literatur. Lyrik plus übersetzte Lyrik plus Essays von LyrikerInnen - so unterscheidet sich Zwischen den Zeilen deutlich von germanistischen Fachblättern, da es hier vorrangig um Primärtexte geht. Immer wieder geben Prominente ihre Gedichte herein. Das interessante Sprachengewusel, ein Sammelbecken für Engelers Autorenpflege, ist teuer. Vermutlich kennen dieses Bibliobabylon vor allem die Herausgeber und Autoren selbst, denn eine normalsterbliche Leserschaft dürfte sich den eierschalenfarbenen Kultgegenstand nach einem ehrfürchtigen Durchblättern ins Regal stellen. Eigentlich könnte Zwischen den Zeilen so gebunden sein wie der Stint früher: als hermetischer Block.
Zum Schluss Diesel. Nordöstlich vom Stint erscheint diese Exotenzeitschrift. Fast alles redet ostfriesischen Dialekt. Diesel druckt herzige Geschichten, gewissermaßen mit der Forke in der Hand erzählt, und daneben bringt die Jubi-Nummer 50 einen herrlichen Kurzbeitrag über das Verhältnis des Deichvolks zu Elfriede Jelinek. "Dat maakt mi depressiv", wird eine Jelinek-Leserin aus dem "Bookhannel" zitiert (bitte ein Foto von dieser Szene!), und Nachforschungen seitens der Redaktion hätten ergeben, dass in der öffentlichen "Bokeree" von Aurich das bekannteste Werk Jelineks, Lust, nur einmal pro Jahr ausgeliehen werde, dagegen das Wörterbuch Plattdeutsch-Hochdeutsch dreißig mal so oft. Das sind Belege. |
BELLA triste Nr. 11, Frühjahr 2005, € 4,-
Muschelhaufen Nr. 45 / 2005 (November 2004), € 10,-
Sterz Nr. 95, 2003, € 6,-
Stint Nr. 33, 2003, € 7,90
Zwischen den Zeilen Nr. 23, Oktober 2004, € 17,-
Diesel - dat oostfreeske bladdje Nr. 50, Winter 2004/05, € 3,- |