Am Erker 61

 
Texte
Am Erker 61, Münster, Juni 2011
 

Imke Müller-Hellmann
Ein Moment

Heute Nacht hat meine Frau mich besucht. Meine Frau ist seit drei Wochen tot. Drei Wochen, zwei Tage. Sie stand vor meinem Bett und sagte: "Komm!", und ich stand auf und bin mit ihr gegangen, den ganzen gottverlassenen Flur entlang, stockdunkel war der, ich hätte einfach liegenbleiben sollen. Meine Frau ging in das Zimmer, das bis vor kurzem unser Schlafzimmer war. Sie öffnete die Tür, als hätte ich sie nie abgeschlossen, und ging hinein, als hätte ich dort nie etwas abgestellt, ihre Sachen, die ich nicht mehr sehen konnte: Möbel, Gegenstände und Kleidung. Sie ging durch alles hindurch, gleichgültig erschien mir das, und ich kletterte um das Regal mit ihren Büchern herum, und um die Kommode, in der sie Briefe aufbewahrt hatte, und Fotos. Dann standen wir voreinander, und meine Frau sah mich an. Ich erschrak. Sie war ganz die Alte: hochgewachsen, spöttisch und schön. Sie hatte die Arme vor der Brust gekreuzt, und in ihren Augen war ein Anflug von Hochmut. Den hat sie immer gehabt, wenn ihr irgendetwas zu nah kam, ein Gefühl, eine Situation. Sie sagte: "Du hast mir das Rad repariert, weißt du das noch?" Ich war überrascht und ich sagte: "Ja." "Und wo ist das jetzt?" Ich schluckte und ich tastete im Halbdunkeln des Raumes nach der Kommode, die in meinem Rücken stand. Ich sagte: "Liebes, das Rad ist kaputt. Bei deinem Unfall. Es lag auf der Kreuzung. Ich habe es nicht mit nach Hause genommen." Sie tat so, als hätte sie das nicht gehört. Sie sagte: "An dem Samstag davor, da hast du mir doch das Rad repariert." Ich nickte. "Und mit dem Rad, das du mir repariert hast, bin ich am Montag zur Arbeit gefahren." Ich nickte erneut. "Und ich saß doch auf diesem Rad, als der LKW abbog und ich geradeaus fuhr, oder?" Ich nickte nicht mehr, mir wurde plötzlich sehr kalt. Es war mitten in der Nacht, ich war barfuß, und ich hatte nur einen Pyjama an. "Und", sagte ich leise, "was willst du mir damit sagen?" Meine Frau verdrehte die Augen. "Ich zeig es dir", sagte sie, "hast du noch einen Moment Zeit?" Sie sagte ernsthaft "noch einen Moment", als gehörte uns nur der Moment, und nicht mehr die Ewigkeit.

Es ging schnell. Es war wirklich nur ein Moment. Wir standen an der Kreuzung. Ich in meinem Pyjama und meine Frau in Pullover und Jeans. Auf der Kreuzung, mitten auf der Straße, lag das Fahrrad. Es war verbogen und zusammengedrückt. Meine Frau sagte: "Das haben wir gleich." Sie ging hin, hob es hoch und trug es zu mir. Sie stellte es ab und fuhr mit der Hand über den Ledersattel. Der Sattel war fast wie neu, und das Fahrrad war nicht mehr verbogen. "Was genau hast du repariert an dem Samstag?" "Die Gangschaltung", sagte ich, "die war kaputt, du konntest nur noch im ersten Gang fahren." Sie drückte die Gangschaltung in den ersten Gang und schob das Rad die Straße hinunter, von der Kreuzung weg. Dann schwang sie sich auf und fuhr auf die Kreuzung los. Als sie an mir vorbeifuhr, rief sie: "Erster Gang. Siehst du? Nur der erste." Von hinten kam ein LKW angefahren, überholte meine Frau und bog rechts ab. Sie radelte in die Kreuzung hinein, über die Straße hinweg. Sie winkte mir von der anderen Seite der Kreuzung zu. Der LKW war vorbei, und niemand war da. Kein Mensch, kein Auto, nichts. Es war still. Sie schob das Rad zurück. Sie stellte es ab und sagte: "Hast du gesehen? Der LKW war längst vorbei." Ich sagte: "Gottverdammt Allmächtiger! Das meinst du nicht ernst." Sie sagte: "Wieso nicht ernst? Der erste Gang. Ich wäre nicht tot. Das ist doch ernst." Sie stemmte die Hände in die Seiten. Sie sagte: "Du hast mir das Rad damals geschenkt." "Ja", sagte ich matt, "und du hast dich gefreut." "Bestimmt", sagte sie, "aber man kann auch zu Fuß zur Arbeit gehen, oder?" Sie hob einen Fuß an und klopfte mit der Handfläche zweimal fest auf den Schuh. Dann ging sie die Straße hinunter, von der Kreuzung weg, drehte sich um und lief los. Ich lehnte mich an eine Hauswand, meine Knie waren sehr weich. Der LKW raste heran, bog rechts ab und verschwand. Meine Frau ging an mir vorbei. Sie lachte und sagte: "Zu Fuß", und sie zeigte auf ihre Füße. Sie ging bis zur Kreuzung und über die Kreuzung hinweg. Der LKW war nicht mehr zu hören. Zurück auf der Kreuzung breitete sie ihre Arme aus und drehte sich einige Male im Kreis.

Es war doch nicht nur ein Moment. Es war die halbe Nacht, oder länger. Meine Frau fuhr mit einem Moped über die Kreuzung, dann mit einem Motorrad und schließlich mit unserem Auto. Sie lief mit Krücken an mir vorüber, dann mit einer Beinprothese, und beim nächsten Mal joggte sie über die Straße hinweg. Ich stand an der Hauswand und sah ihr zu. Ich erstarrte jedes Mal, wenn der Lastwagen kam. Aber der bog stoisch rechts ab und fuhr mit großem Abstand an ihr vorbei. Manchmal war er längst nicht mehr zu hören, wenn sie die Kreuzung erreichte, manchmal war er noch gar nicht da. Zwischendurch erklärte sie, was die Szene jeweils mit mir zu tun hatte: Hätte ich bei unserem Autounfall vor zehn Jahren nicht das Lenkrad herumgerissen, hätte sie vielleicht eine Beinprothese gehabt. Hätte ich mir, gegen ihren Wunsch, ein Motorrad gekauft, hätte sie es sich morgens für ihren Weg zur Arbeit geliehen, vor allem montags. Hätte ich sie getriezt, mehr Sport zu machen, wäre sie zur Arbeit gejoggt, und so weiter. Sie wäre immer gottweißwo gewesen, aber nicht dort, auf der Kreuzung, genau in diesem Moment.

Ich bin ein friedlicher Mensch. Ich brauche lange, bis mich ein Gefühl der Wut erreicht. Aber dann stürzt es durch mich hindurch heraus, als gehöre es gar nicht zu mir. Vielleicht passierte das auch nur, weil ich die ganze Zeit so gefroren habe. Es war zu kalt an der Hauswand, im Pyjama, ich habe am ganzen Körper gezittert. Meiner Frau war nicht kalt. Sie fuhr, lief und humpelte über die Kreuzung und hatte glühende Wangen. Sie war ganz bei der Sache. Sie forderte mich auf, die Szenen mit ihr zusammen zu spielen, und ich musste mit ihr auf die Kreuzung zugehen, immer wieder. Einmal sollten wir streiten, einmal über ein Thema ihrer Arbeit sprechen. Wenn man streitet oder intensiv spricht, gehe man langsamer, das hat sie gesagt und es leuchtete mir auch ein. Wir liefen auf die Kreuzung zu, und der LKW bog vor uns rechts ab, jedes Mal. Dann sagte sie: "Hättest du eine Affäre gehabt." Sie sah nachdenklich aus, sie hatte die Hände in die hinteren Taschen der Jeans gesteckt und sah konzentriert auf die Straße. "Ich hätte nicht schlafen können und wäre zu spät zur Arbeit gefahren, an diesem Montag." Da passierte das mit der Wut, die Wut, die nicht zu mir gehört. Ich schrie. Ich stand auf der Kreuzung und schrie. "Schicksal", schrie ich, "es gibt auch ein Schicksal! Es musste alles so sein!" Die Kreuzung war menschenleer, und es war still. Nur meine Stimme hallte jetzt zwischen den schlafenden Häusern. Ich fuchtelte mit den Händen vor meinem Oberkörper herum, und sie stand vor mir und sah mich erschrocken an. Ich sagte sehr schnell und auch sehr laut: "Der LKW-Fahrer hätte sich vorher die Nase geputzt, er hätte einen Kaffee mehr getrunken, an der Tanke, an der er gerade gehalten hatte, er hätte sich gestritten an diesem Morgen und wäre schneller gefahren, wegen der Wut in seinem Bauch." Ich holte Luft, ich kam richtig in Fahrt. "Oder vergiss den LKW-Fahrer! Du wärst die Treppe hinuntergefallen, ein Gerinnsel von Blut hätte sich gelöst und den Zugang zu deinem Herzen verstopft, du wärst Opfer eines Verbrechens geworden, dich hätte eine Wespe in den Hals gestochen." Ich habe noch andere Möglichkeiten genannt und bin dabei immer lauter geworden. Dann bin ich auf die Knie gesunken und habe geweint. Das ist eigentlich nicht meine Art, aber ich konnte in diesem Moment nicht anders. Wie ein Kind habe ich geschluchzt, und gesagt: "Ich kann doch auch nichts dafür."

Ich habe meine Frau nicht mehr gesehen. Wir haben beide den LKW nicht gehört. Er bog rechts ab und überfuhr uns, ich glaube, er hat es nicht mal gemerkt. Eine Wand, ein Knall, und das war es. Ich spürte die Schwere meines Körpers und eine warme Flüssigkeit in meinem Gesicht. Es war sehr dunkel, und es dauerte nur einen Moment, dann war ich zurück, in meinem Bett. Ich weiß nicht, wohin meine Frau gegangen ist. Und ob es für sie ebenso war: nur ein Moment. Ich bin aufgestanden, und der Morgen dämmerte. Der Kopf tat mir sehr weh. Ich bin den Flur entlanggegangen und bin vor dem Schlafzimmer stehengeblieben und habe gelauscht. Ich habe die Klinke heruntergedrückt, aber die Tür war verschlossen, und ich habe auch gar nichts gehört.