Am Erker 60

 
Texte
Am Erker 60, Münster, Dezember 2010
 

Rolf Stolz
Venezianische Miniaturen   [Auswahl]

Niemals, ich sage laut niemals, sollte man Siege malen wollen, ehe sie unzweifelhaft errungen sind. Der Maler Ippolito Caffi, in Belluno geboren und auf der Kunstakademie Venedigs ausgebildet, wurde 1849 aus der Stadt verbannt – und zwar nicht, weil er zur Guardia Civica gehört hatte, die nach dem Aufstand von 1848 sich gegen die zunächst noch einmal siegreichen Österreicher empört und gewehrt hatte, sondern weil man ihn mit seinem Vetter verwechselte, dem Anführer des Sturmes auf den Sitz des Patriarchen. 1866 holte man Ippolito Caffi, damit er vom Admiralsschiff, der Ré d'Italia, aus den erwarteten Sieg über die Marine der Donaumonarchie malen solle. Das Schiff aber ging in der Seeschlacht von Lissa mit dem Maler und mit dem begonnenen Bild unter.

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Den Rio della Sensa, jenen Kanal, der nach dem höchsten Stadtfest und der symbolischen Vermählung des Dogen mit dem Meer benannt worden war, hatte der Staat den Kurtisanen zugewiesen. Dort nur durften sie ihre Werbefahrten veranstalten – vom Ufer betrachtet von den Kunden, den Konkurrentinnen und den Gaffern. Andere zeigten ihre Brüste auf dem Ponte delle Tette, der "Brücke der Brüste", zwischen San Polo und Santa Croce. Der Katalog der nachgefragtesten Kurtisanen von 1547 nennt 215 erste Adressen unter folgendem Titel: "Das ist der Katalog der wichtigsten und geehrtesten Kurtisanen von Venedig, ihrer Namen, der Räume, wo sie wohnen, der Stadtteile, in denen ihre Räume liegen, und auch der Zahl der Denare, die jene Herren zu bezahlen haben, die ihre Gunst zu erreichen trachten". Wie schön ist es da, daß die Damen ihre Berufsbezeichnung zurückführen auf das Wort cortesia, Gefälligkeit.

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Der englische Reisende Thomas Coryate entwickelte 1608 eine Theorie, warum die Zahl der Damen, die ihre Köcher teils nur für manchen, teils für jeden Pfeil öffneten, mit wenigstens zwanzigtausend so hoch und der Staat ihnen so gewogen sei. Er sieht als Grund, daß die Männer Venedigs bestrebt seien, ihre Ehefrauen durch massive Konkurrenz vielleicht nicht ganz billiger, aber dafür williger Frauen auszubremsen. Im übrigen würden die vornehmen Ehefrauen Venedigs aus Angst vor deren Untreue ohnehin weitgehend unter Verschluß gehalten – man bekäme sie selten zu Gesicht. Am Rande erwähnt er noch, daß die Steuern der Kurtisanen den Unterhalt eines Dutzends Galeeren erlaubten.

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In den berüchtigten Gefängnissen Venedigs saß so mancher, der seine Liebesschulden nicht bezahlen konnte und dem das Privileg widerfahren war, daß ihm nicht sogleich ein Zuhälter die Kehle durchgeschnitten hatte. Selbst dort hatten Ehefrauen, Geliebte, Huren gegen ein gutes Trinkgeld ungestörten Zutritt, was immer wieder von den Behörden beklagt, aber nie ernsthaft abgestellt wurde. Manche Grenze war dabei fließend: Veronica Franco, um deren Gunst sich 1574 Henri Trois, Heinrich III. von Frankreich, bemühte, war sechsfache Mutter, Dichterin und eine bedeutende Dirne. Ob diese celebre letterata eine meretrice oder eine cortigiana gewesen sei oder vielleicht doch eine ehrbare Dame – darum stritten sich noch 1874, also drei Jahrhunderte später, die Geschichtsforscher Guiseppe Tassini und Gianjacopo Fontana im Osservatore Veneto. Tassini wechselte übrigens im Titel seines Buches von der Erstauflage 1874 zur zweiten Auflage 1888 von der "Dirne" zur "Kurtisane".

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Der cicisbeo, der besonders im galanten achtzehnten Jahrhundert epidemisch anzutreffende verehrungsvolle Galan Venedigs, ist – zumindest wenn wir dem Dichter Ugo Foscolo glauben – weder Liebhaber noch Freund, noch Kammerdiener der von ihm angebeteten Ehefrau, vereinigt aber all das in einer spezifischen Kombination. Wenn in der Dama Prudente Goldonis Donna Eulalia sagt, sie sei es nicht gewohnt, sich vor ihrem Kavalier an- und auszukleiden, so antwortet ihr ihr cavalier servente ebenso freundlich wie bestimmt, das sei nun einmal so üblich, und es vergehe kaum ein Tag, an dem er nicht die Ehre habe, irgendein Mieder zuzuschnüren. Der cicisbeo führt seine Dame auf ein Eis ins Café, er promeniert mit ihr auf der Piazza oder am Canal Grande, und der vielbeschäftigte Ehemann ist glücklich, daß jemand seiner Frau jene Dienste leistet, die er selbst anderen Frauen als cicisbeo erweist. Im übrigen bewegt er sich zwischen der Angst, seine Frau könne ihn öffentlich lächerlich machen, indem sie ihm allzu sichtbar Hörner aufsetzt, und der Angst, er selbst könne sich durch Eifersuchtsaktionen dem allgemeinen Spott ausliefern. Und aus eigener cicisbeo-Erfahrung kennt er die Rangordnung der Rivalen: An erster Stelle im Herzen und im Leben der feinen Dame wie der Bäckersfrau kommt der cicisbeo, dann (sofern vorhanden) der profane Geliebte, dann erst der Ehegatte.

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Die innere Haltung derer am Ruder ist eine besondere, auch in der modernen Zeit und auch bei manchen der Frauen, die bei der Regatta delle Donne antreten. Maria Boscola, deren Porträt mit fünf Trophäenfahnen in ihren Armen im Museo Correr hängt, gewann fünfmal a due remi, mit zwei Rudern: Am 4.5.1740, am 4.6.1764, am 3.6.1767, am 8.5.1784 und am 25.5.1784 – also sowohl als ganz junge Frau, als Frau in den besten Jahren wie auch als Großmutter mit über sechzig Jahren. Vor einigen Jahren siegte eine Frau im Zweierboot, obwohl hundert Meter vor dem Ziel ihre Rudergefährtin ohnmächtig zusammensackte und erst zur Siegerehrung wieder zur Verfügung stand.