Texte
Am Erker 48, Münster, Dezember 2004
 

Michael Esders
Schallstaub

Als Onkel Jupp gestorben war, brauchte er keine Neuigkeiten mehr. Also bekam ich das alte Radio des Fernsehverweigerers: Nordmende Elektra. Natürlich war ich enttäuscht. Kein Stereo, kein Hi-Fi, kein Kassettendeck: Ich hatte wieder einmal den Anschluss an die Zeit verpasst. Onkel Jupps Radio glich eher einem Möbelstück als einem technischen Gerät. Es machte aus seinem Inneren ein Geheimnis. Magisches Auge, phosphoreszierender Grünschimmer. Hinten einige kleine runde Öffnungen, aus denen es leuchtete.Vorne ein gülden-vergilbtes Gewebe, das mit der Zeit etwas speckig geworden war. Eine Art Vorhang, hinter dem sich der Lautsprecher abzeichnete.
Der Apparat hatte wenige Knöpfe aus elfenbeinfarbenem Kunststoff, die sich nur schwer bewegen ließen. Der UKW-Knopf war sogar schon eingedrückt. Er hatte Onkel Jupps Daumen zu oft nachgegeben. Man konnte ihn nur noch mit einem Filzstiftbalken zum Einrasten brin gen. Die Regler für Lautstärke und Tonhöhe gaben nur schwer nach. Auch dieser Widerstand gehörte zum Geheimnis.
Bald merkte ich, dass es etwas zu entdecken gab. Etwas, das gar nicht für mich bestimmt war. Aus diesem Holzkasten kamen keine Nachrichten, sondern Botschaften, die ich erst noch entziffern musste. Man merkte ihnen an, dass sie einen langen Weg durch eine klirrende Winternacht hinter sich hatten. Ich bevorzugte die Lang- und Mittelwelle, weil dort die Abnutzung des Schalls am deutlichsten war. Dem Fernsehen mit seinem Gleichzeitigkeitswahn fehlte dieser Zauber des nächtlichen Unterwegsseins von Funkturm zu Funkturm. Während meiner Radiozeit interessierten mich am Fernsehen nur noch die Unterbrechungen und Pannen, Bild- und Tonstörungen, die eingeblendeten Funktürme oder Testbilder. "Bitte haben Sie etwas Geduld."
Oft hatte ich im Radio die vertrauten Stimmen gesucht, um einschlafen zu können, väterliche und mütterliche Stimmen. Jetzt suchte ich die Fremde. Langwelle, Ätherreisen über Täler und Tundren, Gebirge und Buchten. Minsk, Prag, Kalundborg, Luxemburg, Oslo, Ostzone, Moskau, Tromsö, Hamburg. Stimmengestöber, Morsezeichen, das Knacken und Knistern, blecherne Musik wie aus einem alten Grammophon, das Rauschen des Unerhörten im Hintergrund. Nordmende Elektra, mein Weltempfänger. Mittelwelle, Bologna, Zagreb, Bari, Rias, Rennes, Monte Ceneri, Beromünster, Hilversum. Das scharfe Skandieren russischer Sprecher, ein konsonantischer Dauerbeschuss, snobistische englische Nasale, die komischen holländischen Gaumenklänge und der eigentlich schon ausgestorbene, schneidende deutsche Wochenschau-Ton, der auf den Lang- und Mittelwellen ein letztes Reservat gefunden hatte.
Ich schaltete auf UKW um, wenn mir die anderen Kanäle zu gruselig wurden. Wetterberichte, Werbung, Nachrichten, beruhigender Alltag. Aber auch auf UKW konnte man Entdeckungen machen. An der Grenze der erlaubten Frequenzen gingen Stimmen und Schlager in lauten Pieptönen unter. Es war die Stelle, an der in normalen Radios eine Sperre eingebaut war, wie eine Kindersicherung für Erwachsene.
Einmal hatte ich bei meinem Radiowecker versucht, den Regler mit Gewalt weiterzudrehen. Es knackte, dann überdrehte der Regler, ohne dass ich die andere, verbotene Seite der Ätherwelt erreichte. Erst viel später merkte ich, dass im alten Nordmende-Radio der Widerstand an der Frequenzgrenze nachgab. Onkel Jupp hatte also an dem Gerät herumgeschraubt. Er hatte sich nicht mit den offiziellen Neuigkeiten zufrieden gegeben.
Ich presste mein Ohr an den speckigen Stoff vor dem Lautsprecher. Ich fühlte mich als Eingeweihter und ahnte, warum dieses Gewebe mit der Zeit so speckig geworden war. Ich wartete auf Morde, Banküberfälle, Verfolgungsjagden. Aber ich bekam weit weniger als erwartet zu hören. Vechta statt Monte Ceneri. VEC, Victor, Emil, Cäsar. Stille, dann wieder eine Litanei aus Zahlen und Buchstaben. Zwischendurch ein entlaufener Hund, ein Betrunkener in der Autobahnraststätte, immerhin das. Aber keine bekannten Namen.
Ich wartete, aber die Stimmen meldeten sich immer seltener. Und wenn sie sich meldeten, waren sie so leise, dass ich kaum ein Wort verstand. Irgendwann verschwanden sie ganz. Wackelkontakt, dachte ich und klopfte auf den Holzkasten, schlug, trommelte. Aber es tat sich nichts. Nur ein entferntes Piepen, eine nicht einmal mit Rauschen ausgefüllte Stille.
Ich schaltete wieder auf Langwelle um. Der Äther hatte mir noch einiges vorenthalten. Ich hatte gerade etwas von Botschaften aus dem Jenseits gelesen und war mir sicher, dass sich in das Äthergetöse auch die Toten einstimmten. Die brauchten keinen Sender und keinen Funkturm. Vielleicht war das Rauschen ein riesiger Chor Lebender und Toter, unzählige Stimmen, die sich überlagerten und gegenseitig zu feinsten Schallpartikeln zerstäubten. "Rhabarber, Rhabarber, Rhabarber." Ich musste an den alten Hörspieltrick denken, mit dem man ein Getuschel im Hintergrund künstlich erzeugen konnte. Einige Stimmen traten aus dem Schallstaub hervor. Flackernd waren sie, dabei aber doch durch dringend. Die Toten sprachen blechern und gedehnt. Sie hörten sich an wie die Stimmen auf einem zu langsam abgespielten Tonband.
Lange Winternachmittage drehte ich den Regler für den Skalenzeiger hin und her, immer auf der Suche nach Überirdischem. Langsam und ganz vorsichtig, um keine Botschaft zu überspringen. Nach einer halben Stunde wurde ich ungeduldig. Wenigstens Onkel Jupp hätte sich doch auf seiner Nordmende Elektra zu Wort melden können. Ich rief seinen Namen und versuchte meine Gedanken ganz auf ihn zu konzentrieren, auf seine Hornbrille, seine Glatze, seinen Daumenabdruck auf der UKW-Taste. Dann holte ich seine Taschenuhr, die ich im hintersten Winkel des Wohnzimmerschranks gefunden hatte. Ich hielt die Uhr, die bei zehn vor acht stehen geblieben war, vor das Radio, ließ sie pendeln, rief wieder und wieder seinen Namen. Es half nichts. Vielleicht versteckte er sich hinter tschechischen Wetterberichten oder dänischen Gutenachtgeschichten. Vielleicht hatte er heute anderes zu tun.
Dann merkte ich, dass es inzwischen dunkel geworden war. Mein Handgelenk schmerzte, mein linkes Bein war eingeschlafen. Ich durchsuchte noch einmal die gesamte Skala von links nach rechts. Dann gab ich auf und zog den Stecker raus. Der Grünschimmer des magischen Auges erlosch erst, als ich schon im Bett lag. Noch vor dem Einschlafen beschloss ich, gleich morgen mit meiner Oma einen Jenseitskanal zu vereinbaren. Sie würde sich an die Verabredung halten und sicher deutlicher sprechen als Onkel Jupp. Auf Langwelle, genau in der Mitte zwischen Oslo und Ostzone.