Texte
Am Erker 40, Münster, Dezember 2000
 

Martin Ebbertz
Die Jägerprüfung

Ein Jäger muß früh morgens aus dem Bett. "Raus aus den Federn!" pflegte Schulze zu sagen. "Man ist der erste Mensch!" Das sollte wohl heißen, der Jäger ist das erste menschliche Wesen, das sich in der Frühe in den Wald begibt, noch vor den Waldarbeitern, den Wanderern und allen. Schulze war Zilligs Lehrherr.
An seinen freien Tagen stand Zillig noch vor Anbruch der Dämmerung vor Schulzes Jagdhütte. Das kleine Ritual blieb sich immer gleich. Zillig klopfte drei mal an die Tür. "Wie ist die Losung?" rief es von innen heraus. "Mensch!" sagte Zillig. Die Tür öffnete sich, und Schulze stand im Eingang. Er war bereits fertig eingekleidet. Er trug eine Kniebundhose und einen grünen Lodenmantel. Sein Hut war mit ein paar kleinen Federn geschmückt. Um die Schulter hing seine Büchse. "Dann auf!" sagte Schulze.
Es ging dennoch nicht sofort in den Wald hinaus. Zillig folgte Schulze in seine Jagdhütte. Der Morgen begann mit einer kleinen Prüfung. Die Männer schritten schweigend die Wände der Hütte ab, beide in voller Jagdmontur, Zillig allerdings ohne Gewehr.
An den Wänden hingen Geweihe und ausgestopfte Tiere auf Brettern aus Eichenholz. Ein Fuchs stand friedlich neben einem Rebhuhn. Ein mächtiger Auerhahn thronte über mehreren Gehörnen von Rehböcken, Hirschgeweihen und den Hauern einiger Keiler.
Vor dem Geweih eines Damhirsches blieb der Förster stehen. "Na?" sagte Schulze. Zillig sollte das Alter raten. "Man müßte die Zähne sehen", sagte Zillig. "Ja", sagte Schulze. "Aber macht nichts, einfach raten!" Zillig sagte eine Zahl, er lag gut, und Schulze nickte zufrieden.
Die Jägerprüfung, so pflegte Schulze zu sagen, ist schwerer als das Abitur. Zillig hatte das anfangs unterschätzt. Zillig war vor zwei Jahren Prokurist von Werk VII einer großen Papierfabrik geworden. Werk VII lag in einer Kleinstadt in der Eifel, und so hatte sich Zillig gedacht, da könne er gut nebenbei den Jagdschein machen.
"Macht es dir Spaß, Tiere zu erschießen?" hatte Simone gefragt. Da sie nicht arbeitete, fiel es ihr schwer, in der neuen Umgebung Anschluß zu finden. Wenn sie wenigstens Kinder hätten. Aber sie hatten keine Kinder, Simone saß allein in ihrem großen Haus, und Zillig hatte das Gefühl, daß ihr seine Leidenschaft für die Jagd nicht besonders gefiel.
"Nein", hatte Zillig gesagt. "Das ist nicht die Hauptsache. Es ist ein Ausgleich, ein Hobby für die Wochenenden. Und man kann Geschäftsfreunde zur Jagd einladen. Aber die Hauptsache ist auch das nicht." "Was denn ist die Hauptsache?"
Zillig hatte nur geschwiegen. Er wußte es selbst nicht.
Die Jägerprüfung, so stellte sich bald heraus, macht man nicht nebenbei. Ein Jahr lang muß man jede freie Minute mit einem Förster im Wald verbringen, so sind die Bestimmungen. Und all das Detailwissen, von der Waffenkunde bis zum jagdlichen Brauchtum, das geht in keinen Kopf. Aber was Zillig einmal angefangen hatte, das zog er durch. Sein Vater war ungelernter Arbeiter gewesen. Der Sohn hatte sich hochgearbeitet bis zum Prokuristen, ohne Beziehungen, nur durch Fleiß. Er würde auch die Jägerprüfung bestehen, das war mal sicher.
"Dann auf!" sagte Schulze wieder, aber es ging immer noch nicht in den Wald. In der Jagdhütte befanden sich unzählige Glaskästen. Das war Schulzes Sammlung. Bevor Schulze und Zillig endlich das Haus verließen, hielt Schulze an einem der Kästen. Wie in einem Terrarium waren darin Zweige, Herbstlaub und etwas Moos auf dem Boden verstreut. Dazwischen lagen kleine braune Kugeln.
Schulzes gepflegte Sammlung hatte für angehende Jagdscheinprüflinge unbestreitbaren Nutzen. Es wird nämlich vom Jäger verlangt, daß er das Wild an den Spuren erkennt, die es im Wald hinterläßt. Von Raubvögeln zum Beispiel findet man Gewölle, das sind ausgewürgte Klöße von Nahrungsresten, die sie nicht verdauen konnten. Der Fachmann kann das Gewölle einer bestimmten Vogelart zuordnen. Verdaute Nahrung, die man auf dem Waldboden entdeckt, wird als Losung bezeichnet. In Größe, Form und Farbe unterscheiden sich die verschiedenen Losungen deutlich, so daß der Jäger bestimmen kann, welche Tiere sein Revier durchstreiften. Derart war Schulzes Sammlung: Die Glaskästen waren, wie Schulze zu sagen pflegte, Exkrementarien.
"Wie ist die Losung?" fragte Schulze und zeigte auf das Exkrementarium. Zillig warf einen kurzen Blick auf den Kot. Es war nicht schwierig, die typischen Kugeln konnten nur von Hasen oder Kaninchen stammen, die Größe zeigte den Hasen an. Zillig entschied sich sofort. "Hase", sagte er. "Sehr gut", sagte Schulze. "Dann auf!"
Schulze war ein wortkarger Mensch, und Zillig war das recht. Von Schulzes Vergangenheit wußte Zillig nur aus Andeutungen. Vor langen Jahren war Schulze aus der Zone geflohen, seine Frau jedoch hatte die Flucht nicht überlebt. Schulze redete ungern darüber. Er hatte eigentlich Förster in einem Stadtrevier werden wollen, dann aber die Stelle in der Eifel angenommen. Er war menschenscheu, und man sagte ihm nach, er sei in der Einsamkeit seltsam geworden.
Schulze schritt schweigend voran, und nur gelegentlich machte er eine kurze Bemerkung, flüsternd, damit das Wild nicht aufgeschreckt wurde. Trotzdem klang seine Stimme beinahe bellend. Schulze war vielleicht seltsam, aber er war ein guter Lehrer. Was er einmal erklärt hatte, das behielt man im Kopf.
Für das Auge des Jägers hat alles, was im Wald zu sehen ist, eine klare Bedeutung. Die Dinge sind Zeichen. Schulze zeigte hier auf den zweiteiligen Abdruck eines Hufes, der auf den Hirsch verwies, dort auf gebrochene Äste in einer Dickung, wo Schwarzwild eingedrungen war. "Sauen", flüsterte Schulze und benutzte seine Büchse als Zeigestock. Sie war geladen und entsichert, was nicht den Vorschriften entsprach, und Zillig dachte daran, daß jederzeit ein Schuß losgehen könnte, wenn Schulze so mit dem Gewehr herumfuchtelte.
Dann bemerkte Schulze eine leere Plastikflasche. "Touristen", sagte er abfällig und stupste die Flasche mit dem Gewehrlauf ein Stück zur Seite. Einmal, an einem Tag, an dem er ungewöhnlich gesprächig war, hatte Schulze Zillig von einem Traum erzählt. Im Traum hatte Schulze einen Düsseldorfer Revierpächter und Jagdhüttenbesitzer an einen Marterpfahl gebunden, und vor seinen Augen seinen Jeep mit Benzin übergossen und in die Luft gesprengt.
Das war ein Traum gewesen. Aber nicht nur im Traum war Schulze kein Menschenfreund, und es war eigentlich erstaunlich, daß er sofort bereit gewesen war, sich ein Jahr lang von Zillig begleiten zu lassen.
Die beiden näherten sich einem im Laub einer Eiche verborgenen Hochsitz am Rand einer Lichtung. Schulze ging einen Umweg um fast die ganze Lichtung herum, um sich schließlich entgegen der Windrichtung dem Hochsitz zu nähern, damit das Wild keine Witterung aufnahm. Zillig trat auf einen trockenen Zweig, der laut knackte. Ein Eichelhäher stieß seine warnenden Rufe aus. Schulze verzog keine Miene.
Auf Ansitz saßen die beiden längere Zeit nebeneinander auf einer Holzbank. Zillig sah durch einen Feldstecher, Schulze benutzte das Zielfernrohr seiner Büchse und suchte damit die Gegend ab.
Eine Weile tat sich nichts. Man mußte nun abwarten, bis das Wild die Warnung des Eichelhähers vergessen hatte. Dann aber stieß Schulze Zillig in die Seite. Sein Gewehrlauf zeigte auf den Rand der Lichtung, wo ein kapitaler Hirsch aufgetaucht war. Zillig richtete seinen Feldstecher auf den Hirsch. "Ein Vierzehnender", flüsterte er. Schulze nickte stumm.
"Macht es dir Spaß, Tiere zu erschießen?" hatte Simone gefragt, als ob das die Hauptsache wäre. Nein, die Hauptsache war es nicht, aber jetzt juckte es Zillig in den Fingern. Er würde gerne schießen. Endlich, das erste Mal. Simone würde das nie verstehen.
"Darf ich?" fragte Zillig. Schulze begriff sofort. Wortlos tauschte er sein Gewehr gegen Zilligs Feldstecher. Der Hirsch stand regungslos da und sah sich um. Zillig hatte ihn genau im Fadenkreuz. Seine Finger berührten den Abzug, sie zitterten. Zillig bewegte den kleinen Hebel, bis er einen leichten Widerstand spürte. Dann aber, ganz plötzlich, schien der Hirsch zu erschrecken. Und mit einem Sprung war er im dichten Mischwald hinter der Lichtung verschwunden.
Schulze machte eine resignierte Handbewegung. Zillig behielt die Stelle im Auge, als hoffte er, der Hirsch könne wiederkommen. Regungslos starrte er durch das Zielfernrohr.
Aber der Hirsch kam nicht wieder, natürlich nicht. Statt dessen tauchten zwei Wanderer auf. Sie also waren der Grund gewesen für seinen plötzlichen Abgang. Schulze schüttelte unwillig den Kopf. Zillig hielt das Gewehr auf die Wanderer und beobachtete sie durch das Zielfernrohr. In diesem Moment löste sich ein Schuß. Es war ein einziger, kurzer Knall. Einer der beiden Wanderer knickte mit einem gellenden Schrei zusammen. Zillig konnte nicht erkennen, was geschehen war. Erschrocken ließ er den Gewehrlauf sinken. "Ein Unfall", sagte er. "Nicht wahr, ein Unfall?" Schulze zuckte mit den Achseln und nahm Zillig das Gewehr aus der Hand. "Tja", sagte er dann und stieg den Hochsitz hinunter. "Hahn in Ruh."
Verdammt noch mal, dachte Zillig, als er Schulze nachkletterte, es würde nun einige Schwierigkeiten geben, das war sicher. Zillig dachte an Werk VII, und er dachte an Simone. Er dachte daran, daß sie Kinder haben wollten, und er dachte es so, als sei das jetzt nicht mehr möglich. Er dachte an Verhöre, und er dachte an Gefängnis. Unten sah er Schulze fragend an. Der zögerte einen Moment. "So", sagte er endlich. "Dann auf!"
Zillig hatte Mühe, Schulze in gleicher Geschwindigkeit zu folgen. Der Förster ging mit großen Schritten voran, nicht auf die Unfallstelle zu, sondern auf direktem Weg zurück. "Was ist?" fragte Zillig atemlos. "Was machen wir?" Er spürte seine Kniee zittern. "In der letzten Zeit waren Wilderer im Revier", sagte Schulze ohne seine Schritte zu verlangsamen.
"Wilderer?"
Schulze nickte mit dem Kopf. "Bei denen weiß man nie, wo sie hinschießen."
Schulze und Zillig durchquerten eine Fichtenschonung. Sie gingen abseits der Wanderwege, beinahe Luftlinie. Sie stapften durch einen Bach, sie kletterten über einen Weidezaun. Nur einmal hielt Schulze an.
"Da", sagte er und zeigte auf den Boden. "Na?"
"Keine Ahnung", sagte Zillig.
Schulze nahm ein Papiertaschentuch und sammelte die Exkremente eines Tieres auf.
"Muffel", sagte Schulze. "Besonders schöne Stücke. Zum Glück hat es nicht geregnet." Behutsam faltete er das Taschentuch zusammen. "Übrigens, die Büchse." Schulze hielt das Taschentuch in der linken Hand, mit der rechten gab er Zillig seine Waffe. "Die schenke ich Ihnen."
"Das kann ich nicht annehmen", sagte Zillig. Es war ein wertvolles Stück.
"Ist schon gut", sagte Schulze. "Es ist nicht meine einzige. Ich will sie Ihnen schenken." Er sah Zillig an, so wie sich Männer ansehen, die ein Geheimnis miteinander haben. "Aber lassen Sie sie noch eine Weile im Schrank."
Zillig hängte sich das Gewehr um die Schulter, Schulze nickte mit dem Kopf. Beide schwiegen.
Nach einer Weile sagte Zillig: "Muß man sie präparieren?" "Die Büchse?"
"Die Losung", sagte Zillig. "Die Muffellosung."
"Nachher muß sie noch ein bißchen in der Sonne trocknen", sagte Schulze. "Das ist alles." Er ging weiter, das Taschentuch trug er an den Zipfeln vor sich her.
Muffelscheiße, dachte Zillig und lachte leise über den Ausdruck. Muffelscheiße!
"Schüsseltreiben!" rief Schulze, als sie vor der Tür seiner Jagdhütte standen. Das Ritual blieb sich immer gleich. Schulze lud Zillig zu einer Erbsensuppe ein. "Aber zuvor noch eine kleine Prüfung?"
Zillig hatte Schulze im Laufschritt eingeholt. "Ja", sagte er schnaufend. Das Gewehr an seiner Seite wippte.
"Also herein", sagte Schulze.
Der Förster legte das Taschentuch mit dem Muffelkot zum Trocknen offen auf den Balkon. Dann führte er Zillig an eines seiner Exkrementarien und sah ihn prüfend an. "Und? Wie ist die Losung?"
Zillig betrachtete den dunklen Haufen. "Hund?" sagte er. Schulze schüttelte den Kopf. "Schaf?" sagte Zillig. Er mußte raten, denn die Bestimmungsmerkmale waren nicht eindeutig. "Vielleicht etwas Exotisches? Antilope? Känguruh?" "Nein", sagte Schulze. "Das hier", sagte er, wobei sein Zeigefinger bohrend auf die Scheibe drückte, "das hier", er machte eine übertrieben lange Kunstpause, "das hier ist die Krone." Und als Zillig immer noch nicht begriff: "Die Krone der Schöpfung."