Am Erker 69

Anke Stelling: Bodentiefe Fenster

 
Rezensionen
Anke Stelling: Bodentiefe Fenster
 

Mütter am Rande des Nervenzusammenbruchs
Joachim Feldmann

Schon ihre Mutter hatte als Aktivistin der anti-autoritären Kinderladenbewegung alles besser machen wollen als die Generationen vorher. Wohin deren Glaube an Ordnung und bedingungslosen Gehorsam geführt hatte, ließ sich um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts herum besichtigen. Noch einmal durfte es nicht zu einer solchen Katastrophe kommen. Es galt, die Welt in einen besseren Ort zu verwandeln, und der erste Schritt in diese Richtung war ein radikal anderer Umgang mit dem Nachwuchs.
Die Mutter ist lange tot, doch ihre Ideale leben in Sandra weiter. Mit Gleichgesinnten betreibt sie ein Wohnprojekt in einem angesagten Berliner Stadtteil, die Eltern heißen Jörn, Hendrik, Tinka oder Berit, die Kinder Franz, Bo, Lina oder Finn. Aber auch Singles sind dabei und Vertreter aus der Generation der Großeltern. Alles könnte so schön und harmonisch sein, doch leider will sich das Glück nicht einstellen. Die regelmäßigen Plenumssitzungen sind der pure Stress für Sandra. Da kann auch Jörns souveräne Versammlungsleitung nichts ausrichten. Denn die wirklichen Probleme werden nicht diskutiert: gestörte Eltern, gestörte Kinder, gestörte Beziehungen.
Das ist zumindest Sandras Überzeugung. Die großartige Autorin Anke Stelling, von der man viel zu lange nichts gelesen hat, lässt die junge Mutter am Rande des Nervenzusammenbruchs erzählen - ironisch, genau und desillusioniert. Denn schon lange hat sie sich von dem Gedanken verabschiedet, dass der schöne Plan aufgeht. Aber sie erinnert sich noch gut an die Begleitmusik zum emanzipatorischen Weltverbesserungsprogramm. Die einschlägigen Zeilen aus den Liedern des einst so populären Grips-Theaters wollen ihr nicht aus dem Kopf gehen: "Einer ist keiner / zwei sind mehr als einer. / Sind wir aber erst zu dritt / machen alle andern mit!"  Keine schlechte Idee, aber die Realität sieht anders aus: "Ich muss zusehen, dass Bo und Lina eine Gymnasialempfehlung kriegen, dass wir das Dach über dem Kopf behalten, dass ich nicht krank werde [...]." Dabei ist Sandra schon krank, nur mitbekommen hat sie es noch nicht.
Bodentiefe Fenster erzählt vom Scheitern großartiger Ideale angesichts der Mühen des Alltags, sollte aber nicht als ein Plädoyer für Einfamilienhaus und Vorortsiedlung verstanden werden. Anke Stelling bietet keine Lösung an, sondern schmerzliche Erkenntnis. Und dafür ist Literatur schließlich da.

 

Anke Stelling: Bodentiefe Fenster. Roman. 248 Seiten. Verbrecher. Berlin 2015. € 19,00.