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Nicholson Baker

 
Rezensionen

Nicholson Baker: Eine Schachtel Streichhölzer
 

33 Momente des Leseglücks
Andreas Heckmann

Beneidenswert, wer als Kurzprosaist einen Weg gefunden hat, seine kleinen Wunderwerke in einem Buch zu versammeln, ohne dass sie nur durch Ton und Stil zusammengehören oder künstlich perspektiviert und wie in eine Zwangsjacke geschnürt wirken, in der der anarchisch auskeilende Sprachspieltrieb nur noch nachzuckt. Ob so eine Sammlung nun Mehrere Männer heißt und 86 sehr kurze Geschichten enthält, die meist mit den Worten "Ein Mann" beginnen, ob die Texte als Legenden daherkommen, denen der Charme der Lieblosigkeit eignet, oder ob einer mit seinem Kühlschrank Zwiesprache hält: Wer den richtigen Dreh gefunden hat, dessen Verbalkleinodien treten im Schutz und in der Pracht eines Schatzkästleins vor ihr dankbar schwelgendes Publikum.
Einer, der seiner Unfähigkeit (oder seinem Unwillen) zur großen Form die heitersten, dabei durchaus melancholischen Impressionen abgewinnt, ist Nicholson Baker. Ob er einen New Yorker Angestellten in die Mittagspause schickt und sich in Gedanken über die Dinge verlieren lässt, die ihm unter die Augen kommen; ob er seinen Helden die Zeit anhalten und interessante Frauen ausziehen, betrachten und wieder anziehen lässt; ob er Vatergefühlen beim Aufwachsen seiner Kinder Ausdruck verleiht - immer wieder unternimmt Baker den Versuch, flüchtige Momente sprachlich zu fassen, ohne das Beschriebene ins Fixierbad zu tauchen und abzutöten.
Mit Eine Schachtel Streichhölzer ist es ihm erneut gelungen, Alltäglichstes, für das wir (gerade weil es so alltäglich ist) kaum Worte haben, zur Sprache zu bringen und es dabei so zu beschreiben, dass es klar und zum Greifen nah vor Augen steht, an den Rändern aber ausfranst, also unscharf wird und genau in dieser Unschärfe seine Lebendigkeit beweist. Einmal mehr hat Baker seine Verbalisierungs-energie nicht zur kolonisierenden Unterwerfung bisher vorsprachlicher Regionen eingesetzt, sondern dazu, die Sensibilität seiner Leser und ihr Wissen um sich und die Welt zu erweitern, ohne den Alltag durch bannende Setzung zu entzaubern.
Der Ich-Erzähler von Eine Schachtel Streichhölzer, einem Buch, das aus 33 Texten besteht, die mal nur einen kurzen Absatz, mal sechs Seiten umfassen, dürfte mit dem Autor viel gemein haben, und doch wirken die Einblicke, die er in sein Privatleben gewährt, nie indiskret, sondern wie Ergebnisse einer Forschungsreise in Randgebiete der Wahrnehmung, in halbbewusste, kaum je verbalisierte Erlebnisse. Baker unternimmt poetische Tauchfahrten in den Alltag, indem er z.B. die Freude beschreibt, beim Abwasch mit dem Schwamm widerstandslos in einer sauberen Schüssel herumzufahren, oder seinen Helden verschlafen im Dunkeln nach einer Tasse suchen lässt, von der er fest glaubt, sie musste stehen, wo sie hartnäckig nicht steht.
Emmett wacht jeden Morgen zwischen halb vier und halb sechs auf, tastet sich durch sein dunkles, abgelegenes, 200 Jahre altes Haus im Norden Neu-Englands und macht Feuer im Kamin - 33 Tage lang, bis die Streichholzschachtel aufgebraucht ist. Dann öffnet er seinen Laptop nur eben weit genug, um tippen zu können, und gibt blind ein, was ihm durch den Kopf geht. Den Bildschirm hat er weitestmöglich abgedimmt: Tiefblaue Buchstaben auf schwarzem Grund streuen so gut wie kein Licht. Emmett sitzt im Dunkeln; nur das Kaminfeuer wirft sein allmählich wärmendes Glutrot ins Zimmer und malt im Verbrennen Landschaften, die seinen träumenden Augen auf die Sprünge helfen. Es ist Februar, dann März, und es ist ganz still. Seine Frau und die Kinder schlafen. Auch die Katze ist ruhig, und draußen in der Hundehütte sitzt die Ente und friert.
Emmett hat Muße. Er ist nicht verschlafen und nicht überwach. Keine Verpflichtung drückt ihn, kein Gedanke nagt an ihm. Sein Kopf ist frei, und seine Finger liegen auf den Tasten. Die Voraussetzungen zum Schreiben sind ideal. Auch, weil Emmett nicht mit einem Roman kämpft, sondern der kleinen Form huldigt. Dem Text, den man überall aufschlagen kann wie ein Zelt. Und der seine Leser dennoch (oder gerade darum) überallhin versetzen kann und ihnen den Zauber ambulanter Erfahrung schenkt. Den des Leichtfüßigen, Tänzelnden, das doch Subkutanem nachforscht. Dem, was man übersieht, überhort, kaum spürt, jedenfalls nicht verbalisiert und darum immer aufs Neue verliert, ohne dass der Verlust lange bewusst bliebe.
Indem der Erzähler als Protokollant von 33 thematisch und atmosphärisch nicht festgelegten Expeditionen in die Alltäglichkeit mal über Einschlafschwierigkeiten nachdenkt, die ihm ein Loch in der Socke bereitet, dann darüber, wie die Familie zu ihrer Katze gekommen ist, mal über die Launen und Vorlieben der Friseure in der nächsten Kleinstadt, dann darüber, wie er auf dem College seine Frau kennen gelernt hat, mal über die Fressgewohnheiten der Ente, dann darüber, wie er seine Schlaflosigkeit früher mit dem Ausspinnen von Katastrophenszenarien zu bekämpfen pflegte, lange auch darüber, was passiert, wenn man von der als Scheibe gedachten Erde fällt und sich unversehens auf der Rückseite der Welt befindet, von wo aus man nur schwer zurückkommt - indem der Erzähler dies und vieles mehr in der surrealen, jeder Einflüsterung offenen Klarheit des dunklen Morgens bedenkt, auf leiseste Signale in sich und ringsum hört und sich von ihnen tragen lässt, kommen traumhaft leichte Texte zustande, deren lind ironische Färbung sie freilich als mit ästhetischem Anspruch, Takt und Feingefühl nachbearbeitet ausweist, nicht als schlichte Protokolle aus dem Zwischenreich von Schlaf und Wachen, Traumlogik und planvollem Schreiben.
Bei der Präsentation seiner Neuübertragung von Salingers Der Fänger im Roggen ist Eike Schönfeld - der langjährige, kongeniale Übersetzer Nicholson Bakers - gefragt worden, welche von all seinen Übersetzungen ihm die liebste sei. Die von Rolltreppe oder die Herkunft der Dinge, hat er ohne Zögern geantwortet. Gut möglich, dass er in ein paar Jahren eher die Übertragung von A Box of Matches nennen wird. Denn wie es ihm hier gelungen ist, zwar nicht 33, aber doch viele Arten des Feuerentfachens in ein immer aufs Neue begeisterndes Deutsch zu bringen und Bakers kunstvolle Alltagsbeschwörungen so geistesgegenwärtig, klug und geschmeidig zu übertragen, dass ihnen die Herkunft aus einer anderen Sprache kaum mehr anzumerken ist - das ist eine preisens- und preiswürdige Leistung, die übrigens fur Zuckmayer-Freunde den willkommenen Nebeneffekt bereithält,seiner wunderbaren Schilderung des winterlichen Farmlebens in den grünen Bergen von Vermont in Als wär's ein Stück von mir nun endlich ein qualitativ gleichwertiges, wenngleich ganz anderes Pendant beigesellt zu wissen. Mindestens in diesem Sinne hat sich Eike Schönfeld mit der Übersetzung von A Box of Matches auch um die deutsche Literatur verdient gemacht.

 

Nicholson Baker: Eine Schachtel Streichhölzer. Roman. Deutsch von Eike Schönfeld. 151 Seiten. Rowohlt. Reinbek 2004. € 14,90.