Ludwig Homann
Am Erker 31, Sommer 1996
"Im Grunde ist Literatur immer Klage"
: Herr Homann, vor nunmehr dreißig Jahren haben Sie mit einer Kurzgeschichte in der FAZ debütiert. Wie kam es zu dieser ersten Veröffentlichung?
: Ich habe ein Manuskript an die Zeitung geschickt, das dann, ohne jede Vermittlung, angenommen wurde. Ich kann mir heute nicht mehr erklären, wie es dazu gekommen ist. Die Geschichte ist unsäglich, sprachlich wie inhaltlich. Ich weiß nicht, was Robert Held, der damals der verantwortliche Redakteur bei der FAZ war, bewogen hat, sie zu drucken.
Aber die anderen Sachen, die ich zu dieser Zeit schrieb und die dann 1968 bei S. Fischer erscheinen sollten, sind auch nicht viel besser. Zum Fischer-Verlag bin ich über einen literarisch bewanderten Bekannten in Frankfurt gekommen, der von einer meiner Geschichten begeistert war und sie Rudolf Hirsch, dem Hofmannsthal-Experten, zeigte. Zufällig waren die beiden Stammgäste im gleichen Café. Hirsch hat mich dann an Fischer vermittelt. Die gewöhnlichen Schwierigkeiten, die ein junger Autor bei der Verlagssuche hat, habe ich nicht gehabt. Eines Tages kam ein Schreiben von Peter Härtling, der damals Lektor bei Fischer war, dass sie ein Buch mit meinen Geschichten machen wollten.
: Was waren das denn für Geschichten, zu denen Sie heute so ein distanziertes Verhältnis haben?
: Klagen. Literatur ist ja fast immer Klage. Klage, dass die Welt ist, wie sie ist; dass man selbst ist, wie man ist. Charakteristisch scheint mir heute, dass der Titel, der mir ursprünglich für die 1968 erschienenen Geschichten aus der Provinz vorschwebte, "Ebbe" lautete. Da das aber schon Interpretation war, schließlich trug keine der Erzählungen diesen Titel, hat sich Härtling natürlich gesperrt.
: Also galt Ihr Interesse auch zu jener Zeit schon den Schattenseiten der menschlichen Existenz?
: So könnte man das sagen. Aber ist das nicht das Interesse von Literatur überhaupt? Sie entsteht wohl erst, wenn etwas nicht in der Richte ist.
: Diese 'erste Phase' Ihrer schriftstellerischen Laufbahn endete 1973 nach der Veröffentlichung des Romans Jenseits von Lalligalli. Danach veröffentlichten Sie zwanzig Jahre lang nichts mehr. Wie kam es dazu?
: Ich habe wirklich zwanzig Jahre fast nichts mehr veröffentlicht. Aber geschrieben habe ich auch in dieser Zeit, von den Jahren eines nachgeholten Pädagogikstudiums abgesehen. Es liegen zwei fertige Buchmanuskripte in der Schublade, ich konnte sie nur nicht unterbringen. Habe sie allerdings auch kaum ernsthaft angeboten. Bei Fischer hatten Lektorat und Geschäftsleitung fast vollständig gewechselt, und ich kannte fast keinen mehr da. Aber die beiden Romane mögen auch getrost in der Schublade liegen bleiben.
: Sie haben nach dem Studium sogar als Lehrer gearbeitet. Warum haben Sie diesen Beruf wieder aufgegeben?
: Ich hätte so nicht schreiben können. Das ging einfach nicht zusammen. Da die gute, mir ehelich verbundene Dame auch Lehrerin war - schon im Dienst - und wir nicht so viel Geld brauchten, beschlossen wir, dass sie zur Schule geht und ich meine Sachen mache.
: Ganz früher waren Sie sogar Polizist.
: Ja, ich bin mit siebzehn Jahren nach einer landwirtschaftlichen Ausbildung zur Polizei gegangen. Anfangs war ich sehr idealistisch eingestellt. Aber als ich nach der Ausbildung in den Einzeldienst kam, zur Polizeistation Ahlen in Westfalen, fragte ich mich bald, ob das nun das Leben sei, das ich fünfundvierzig Jahre bis zur Pensionierung zu rühren hätte. Das schien mir unmöglich, ich war erst zwanzig, einundzwanzig Jahre alt. Ich beschloss einen radikalen Neuansatz, nämlich das Abitur nachzumachen, zu studieren. Ich packte einen Koffer und fuhr nach Frankfurt, wo ich ein Abendgymnasium gefunden hatte.
: Haben Sie zu dieser Zeit schon geschrieben?
: Nein, außer den üblichen jugendlichen Reimereien vielleicht. Das heißt, genau genommen, hat das doch während meiner Zeit bei der Polizei begonnen. Das ist mir heute selbst verwunderlich. Ich war ja vollkommen ahnungslos, kannte nicht einen Autor mit Namen, kannte niemanden, der das Wort Literatur überhaupt in den Mund nahm. Wie kommt man bei solcher Ignoranz auf den Gedanken, den Irritationen über das Leben mit zwei Erzählungen zu Leibe zu rücken und eine dann an das heimatliche Käseblatt zu schicken? Ich erhielt die Erzählung nach langer Zeit kommentarlos zurück. Sie muss aber als mein erster literarischer Versuch gelten.
: Welche Impulse erhält jemand, der wie Sie aus einem inneren Drang zum Schreiben gekommen ist, von außen?
: Häufig sind es Zeitungsmeldungen, die kurzgefasst eine Begebenheit schildern. Mir geht es dann darum, so einen Vorfall lebendig zu machen, indem ich ihn in eine Geschichte verwandle. So wie bei der Erzählung Engelchen, die auf einen Zeitungsartikel über eine Kindesentführung zurückgeht. Man liest einen derartigen Artikel und fragt sich: Wie kann ein Mensch so etwas tun? Beim Unverständnis stehen zu bleiben, ist, glaube ich, gefährlich. Ein sich der Einordnung schlechthin Entziehendes kommt einem scharfen Sprengsatz gleich. Welt ist bedroht, Unverstandenes sprengt die Welt. Geschichten holen, was herausfallen, was unverständlich bleiben, unmenschlich scheinen will, ins Verstehen zurück, Geschichten stellen die lebensnotwendige Immanenz wieder her. Das ist manchmal harte Arbeit, der Ausgang selten gewiss.
: Eine Szene wie das Gespräch der Hauptfigur Titgemeier mit der Fliege zu Anfang von Engelchen, übrigens eine der stärksten Passagen des Buches, ist also vielleicht schon da, bevor Sie den Handlungsrahmen der Erzählung kennen?
: Ja sicher. Diese Geschichte mit der Fliege hat mir eine Bekannte erzählt, und ich habe mich sofort gefragt: Wie einsam muss ein Mensch sein, damit ihm eine Fliege so wichtig wird? Und eine solche Einsamkeit in einer Gesellschaft, in der man sich ja nicht umdrehen kann, ohne jemanden mit dem Ellenbogen anzustoßen. Das ist doch phänomenal. Wie wird ein Mensch mit solch einer ungeheuren Einsamkeit fertig. Er hat doch ein Bedürfnis nach Unterhaltung, nach Gesellschaft, und er hat auch seine Triebe. So wird ihm erst die Fliege zur Gesprächspartnerin, und dann das Mädchen Julia, das er entführt.
: Titgemeier ist eine gleichermaßen mitleiderregende wie abstoßende Figur. Wie werden Sie damit fertig, die Perspektive eines solchen Menschen einzunehmen?
: Wie gesagt, alles, was in der Welt ist, gehört dazu und muss verstanden werden. Von allem, was unverständlich ist oder scheint, geht die Aufforderung, man könnte sagen: der Auftrag aus, es zu verstehen, es nachvollziehbar zu machen. Das Abstoßendste, Ungeheuerlichste stellt insofern die größte Provokation dar.
: Also steht die Zeitungsmeldung am Anfang, und die Geschichte, die daraus wird, ist dann Ihr Phantasieprodukt. Oder recherchieren Sie auch?
: Für Engelchen habe ich Erfahrungen aus meiner Zeit als Polizist aufgegriffen. Leute, die in Baracken wohnten, habe ich damals sehr genau kennen gelernt. Die Gerüche, diese ganze Art des Hausens, das Zurückgeworfensein auf eine allerprimitivste Existenz, das ist in diese Erzählung eingegangen. Für Ada Pizonka musste ich recherchieren. Zwar wohne ich auf dem Lande, aber viele Dinge habe ich bei den Bauern in der Nachbarschaft erfragt. Wie genau läuft die Bullenfütterung ab, wie der Mais siliert wird ... Ich habe mir das alles zeigen lassen, jeden Arbeitsgang. Schließlich muss das Sachliche bei einem Roman stimmen.
: Ada Pizonka geht ja ebenfalls auf eine Zeitungsmeldung zurück.
: Ja, das war ein grauenhaft blutiger Kriminalfall. Um den Ehemann aus dem Weg zu räumen, hatten eine Frau und ihr Geliebter einen libanesischen Asylbewerber engagiert. Nun war der Mann nach dem Anschlag noch nicht tot, und die Frau vollendete den Mord, indem sie ihn mit einem Stein erschlug. Mich hat interessiert, wie dieses Paar, wie besonders die Frau danach weiterleben kann. Mord am Ehemann, und ein solcher Mord, das sollte doch anders im Magen liegen als ein gegessener Apfel. Nun ist die Geschichte von Ada Pizonka ja in entscheidenden Punkten anders. Sie ist ja nicht die entschlossene Täterin, sondern in hohem Maße auch Opfer.
: Die Darstellung der Männer in Ada Pizonka ist nicht gerade schmeichelhaft. Fast alle sind sie brutale, gierige, unsaubere, also ziemlich heruntergekommene Kreaturen. Da kommt ein ziemlich negatives Männerbild zum Vorschein.
: Eine bestimmte rohe Sorte Männer kommt vielleicht besonders zur Darstellung, der Anhang des Momme Berend Nissen. Diese Sorte kenne ich gut. Ich habe früher mehrfach auf dem Bau gearbeitet, habe mir so zur Zeit des Abendgymnasiums den Lebensunterhalt verdient. Da war ich mit solchen Leuten viel zusammen. Ich habe sogar zeitweilig mit einem Trinker ein Zimmer in einer Baracke geteilt. Er war fast immer besoffen und hat nachts häufiger, wenn er nicht aus dem Bett kam, ins Zimmer geschifft.
: Sowohl Ada Pizonka als auch Engelchen zeugen von einem ziemlich pessimistischen Menschenbild. Sind Ihre Bücher nun Kritik an den Menschen, oder kann man sie auch als Kritik an den Verhältnissen verstehen, die Menschen so werden lassen?
: Ein pessimistisches Menschenbild, das mag wohl sein. Scheint es mir doch, als seien wir so gemacht, dass wenig zu hoffen ist. Dass der Dreck, den wir seit immer haben, mit jedem unvermeidlich und zuverlässig wiedergeboren wird und wir nichts loswerden, bis in alle Ewigkeit nicht.
: Also verstehen Sie ihre Texte nicht als sozialkritisch?
: Eine explizit engagierte Literatur reizt mich nicht sehr. Literatur, die etwas will, die ein Problem wahrnimmt, es kritisiert und damit auch verändern will. Angebundener, vor einen Karren gespannter Literatur fehlt leicht etwas. Man merkt die Absicht.
: Wo sehen Sie sich denn in der literarischen Tradition? Haben Sie Vorbilder?
: Wer eine Handlung in einem Dorf, einer bäuerlichen Welt spielen lässt, schreibt einen Heimat- oder Dorf- oder Bauernroman. Kommt Kriminalistisches vor, einen Dorfkrimi. Das sind mir so Einordnungen. Ich habe nichts dergleichen im Sinn gehabt, sehe mich in keiner Tradition oder Verpflichtetheit, habe weder an Ganghofer noch an Kroetz gedacht. Traditionen, Vorbilder, das muss doch alles längst gesprengt sein, auch in der Literatur. Wahrscheinlich bin ich nicht radikal genug. Die Sachen müssten so sein, dass niemand auf den Gedanken käme, eine solche Ein- und Zuordnung überhaupt zu versuchen. Wir sind hier am Punkt meiner Unsicherheiten und Zweifel. Ich weiß nicht, ob es heute noch erlaubt ist, so zu schreiben, wie ich es tue. Ob das nicht hoffnungslos antiquiert ist. Geschichten erfinden, mit Charakteren, denen etwas widerfährt. Ist man damit eigentlich auf der Höhe der Zeit? Müsste nicht viel radikaler, extremer, verzweifelter, kälter geschrieben werden? Was geschieht nicht alles um uns herum, ist nicht in unserem Jahrhundert geschehen! Sehr viel Geschriebenes, nicht nur das meine, scheint mir damit ungleichzeitig. Deshalb, weil wir auch im Leben die Gleichzeitigkeit nicht schaffen. Wir leben, so wie wir leben, antiquiert.
Rund um mich herum gibt es die fensterlosen Großställe der Massentierhaltung. Ich fahre jeden Tag an ihnen vorbei. Im Sommer, wenn es heiß ist, steht manchmal die Tür am Kopfende offen, man kann hineinsehen (bei großer Hitze besteht die Gefahr, dass es 'rappelt', dass etwa Masthähnchen zu Hunderten umfallen und verenden). Ich tue das, steige aus, sehe hinein - und mich befällt lähmendes Entsetzen. Wieso? Das ist doch immer um mich, ich weiß doch alles. Ich weiß es eben nur, lebe nicht damit. Wir leben nicht wirklich in und mit den Monstrositäten. Wir leben, als wären sie nicht. Wie müsste es uns auftreiben, aufreißen, lebten wir mit ihnen! In ein unausdenkbar Grelles, Schreiendes, Äußerstes stieße uns das. Es radikalisierte uns über alles Vorstellbare hinaus. Aber so ist es nicht. Wir sind in der Lage, obwohl wir von allem wissen, uns im Wohltemperierten zu halten, mit Appetit zu essen, ruhig zu schlafen. Und Geschichten auszuspinnen, in denen dies und jenes passiert. Zwar mit dem hemmenden und drückenden Gefühl der Unzulänglichkeit, ja Lächerlichkeit, dennoch. Wir selber sind monströs. Wie müssten Geschichten aussehen, die eine Gleichzeitigkeit zu dieser Wirklichkeit schafften? Ist eine solche Gleichzeitigkeit überhaupt noch mit Geschichten zu schaffen? |