Uwe Timm: Heißer Sommer (Tb 1970)

Uwe Timm: Der Schlangenbaum

Uwe Timm: Kopfjäger (1991)

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Uwe Timm

 
Uwe Timm

Im Gespräch mit Georg Deggerich und Joachim Feldmann

Am Erker 24, Münster 1992

"Ich weiß, wenn ich an einem Roman schreibe, nie den Schluss"

Am Erker: Wie der Held Ihres letzten Romans Kopfjäger schreiben auch Sie Ihre Texte inzwischen mit Hilfe eines Laptops. Ist man denn noch kritisch gegenüber seinem Manuskript, wenn man es schön ausgedruckt vor sich liegen hat?

Timm: Mir geht es vielmehr so, dass ich überkritisch bin, wenn mir ein Text sauber abgedruckt vorliegt. Ich sehe dann die Dinge, die mir nicht gefallen, besonders deutlich. Das war ja auch der Grund, warum ich ein Manuskript früher mit der Schreibmaschine mehrmals abgeschrieben habe, um so immer wieder ein Druckbild zu bekommen, das den Anspruch des Perfekten hatte. Die Dinge, die ich nicht befriedigend fand, erschienen dann umso grässlicher, und ich konnte sie dann ändern. Beim Computer ist es ganz ähnlich. Der Unterschied ist nur, dass ich die Teile, die mir gefallen und die früher immer mechanisch mit abgeschrieben werden mussten, jetzt so lassen und übernehmen kann.

Am Erker: In Ihrer Poetikvorlesung sagen Sie, dass es für Sie befriedigend ist, Dinge zu zerstören. Haben Sie beim Computer nicht die Angst, etwas zu zerstören, was Sie hinterher nicht wiederholen können?

Timm: Das ist natürlich auch schon passiert. Bei der zweiten oder dritten durchgehenden Fassung von Kopfjäger war ich gerade von einem nichtkompatiblen alten Computer auf einen neuen umgestiegen und habe alles noch mal abgeschrieben. Dabei habe ich das erste Kapitel gänzlich umformuliert, und es ist nur noch ein Steinbruch der ersten Fassung übrig geblieben. Dann geschah das Entsetzliche, ich habe den so wichtigen Anfang versehentlich gelöscht ... Das kann passieren. Aber sonst finde ich diesen Mut, auch mal eine gelungene Sache verschwinden zu lassen, ausgesprochen produktiv. Es geschieht dann zwar manchmal, dass man Dinge, die man experimentell versucht hat, löscht und anschließend denkt: Ach Gott, das war eigentlich eine tolle Fassung. Das muss man dann in Kauf nehmen.

Am Erker: Lassen Sie uns jetzt vom technischen Aspekt Ihres Schreibens zum ästhetischen übergehen. In Kopfjäger spielt das Erzählen eine große Rolle. Der Held des Buches versucht mittels Erzählen, jemandem eine Lebensversicherung aufzuschwatzen oder eine Zeitschrift anzudrehen. In Ihren ersten Romanen hatte das Erzählen noch andere, aufklärerische Aufgaben. Hat sich da etwas Entscheidendes geändert?

Timm: Man muss erst mal eines sehen. Mein erster Roman Heißer Sommer ist zwar nicht biografisch, aber er ist dennoch gespeist durch biografische Erfahrungen aus der Zeit der Studentenbewegung, in der auch ich mich politisiert habe. Der Roman ist nicht nur mit der Absicht erzählt, abstrakt einen Lebenslauf zu verdeutlichen, sondern auch um Rechenschaft abzulegen über diese Entwicklung von den Anfängen der Politisierung über eine starke antiautoritäre Bewegung bis zu deren späterer Zersplitterung in einzelne Organisationen, in kommunistische Gruppen, die Baader-Meinhof-Gruppe und andere. Heißer Sommer ist die literarische Form gewesen, sich darüber Rechenschaft zu geben, Klarheit zu finden. Ich glaube, das ist das Gemeinsame vieler Romane: der Versuch, über das Erzählen Erfahrungen zu machen, sich selbst Klarheit zu verschaffen. Und ich denke, das ist etwas, was auch in Kopfjäger drinsteckt. Es sind sehr viele biographische Momente darin. Es sind viele Dinge, die aus der Kindheit dieses kleinen Onkels erzählt werden. Wenn man will, kann man in diesem widerlichen Kerl mich selbst sehen. Es sind zwei Wege. Da ist der Neffe, der auszieht, in dieser Gesellschaft sein Glück zu suchen, einer Gesellschaft des gnadenlosen Konkurrenzkampfes, einer Ellenbogengesellschaft, einer Dschungelgesellschaft. Dann der Onkel, der aus dem Bürgertum kommt und bessere Bedingungen hat, sich hochzuboxen. Er setzt seine Fähigkeiten sehr geschickt ein und verdient über das Erzählen sein Geld, über Schriftstellerei, natürlich nicht in einer so unangenehmen Weise, wie der Neffe ihm das unterstellt, der Neffe, der das Glück sofort einklagt und sofort haben will, indem er sagt: keine Lust auf Aufschub, sondern sofort! Und da sind eben auch die Täuschung und der Betrug. Einfach, weil die Ausgangsbedingungen für ihn so schlecht waren.

Am Erker: Der Neffe erzählt seine Geschichte ja dann auch selbst. Setzt Betroffenheit den Erzählprozess in Gang, wie das Martin Walser mal gesagt hat?

Timm: Ich denke, dass jeder Schriftsteller aus erlittenen Verletzungen schreibt, sonst gibt es gar keinen Grund zum Schreiben. Selbst die Leute, die das ganz amateurhaft tun, was ich gar nicht geringschätze, die, sagen wir, Tagebuch führen, sind immer Menschen, die Probleme haben. Tagebücher werden nicht geschrieben, wenn man zufrieden und glücklich ist, sondern wenn man Probleme hat und unglücklich ist. Dann beginnt das, was man Reflexion in der Schrift nennt. Die Verletzungen, die diesen Antrieb zum Schreiben geben, dass man sich in der Sprache über sich selbst und über andere Klarheit verschaffen will, das ist eine Sache, die nicht immer neu reflektiert werden muss, sondern die sich in neue Formen kleidet, zum Beispiel in fiktive Formen, und sich darin spiegelt. Dadurch, dass ich den Neffen auch über den Onkel etwas erzählen lasse, können viele Dinge verkürzt und verknappt über den Onkel gesagt werden, die ich so direkt über mich selbst gar nicht geschrieben hätte. Wobei der Unterschied klar ist, denke ich. Für den einen ist das Erzählen eine sehr instrumentalisierte Form, um an das Geld der Leute heranzukommen, dem anderen dient es, um sich über sich selbst und über die Welt Klarheit zu verschaffen. Und es ist eine Seite dieser selbstaufklärerischen Tätigkeit, dass man damit auch noch Geld verdienen kann, die sehr schön ist, wenn man davon leben kann.

Am Erker: Sie sagen, selbstaufklärerisch. Haben Sie den Anspruch, andere mittels Literatur aufzuklären, aufgegeben?

Timm: In einem kurzfristigen Sinn ja. Ich denke, da hatte ich früher Illusionen, was Literatur an Einsichten, ja sogar an Handlungsanstößen bewirken könne. Das ist durch Erfahrung korrigiert worden. Literatur vermag nur minimal und äußerst langsam, Bewusstsein zu verändern. Literatur, denke ich heute, kann Bilder, die wir uns von der Wirklichkeit gemacht haben, sprachlich zerstören, und zwar auf eine lustvolle Weise. Insofern verläuft Literatur, die interessant ist, immer quer zum allgemeinen alltäglichen Sprechen, zu den gängigen Wertvorstellungen. Sie sollte eben das zu beschreiben versuchen, was als blinder Fleck der gewöhnlichen Wahrnehmung unbemerkt bleibt. Und sie soll das möglichst aus einer subjektiven Sicht tun, obsessiv, also unnormal. So erst wird das Normale in seiner Präpotenz bewusst. Und so kann das Recht des Individuums auf seine Besonderheit eingeklagt werden. Das emanzipative Moment von Literatur würde eben darin liegen: auf Pluralität zu insistieren.

Am Erker: Sie haben einmal gesagt, dass Sie Ihre Erzählstoffe nicht suchen, sondern dass die Stoffe vielmehr Sie finden. Können Sie erklären, wie das vor sich geht?

Timm: Da ist zum Beispiel die Geschichte im Schlangenbaum. Der deutsche Ingenieur, dem in einem lateinamerikanischen Land sein Leben entgleitet, ist mir in Argentinien begegnet. Während ich auf einen dieser Überlandbusse wartete, begegnete ich einem Mann, den ich, wie das so passiert, sofort als Deutschen identifizierte. Er trug einen schmutzigen Anzug, der aber sehr teuer gewesen sein musste. Man erkennt das an den durchknöpfbaren Knopflöchern am Ärmel. Man konnte das sehen, weil ihm ein Knopf fehlte. Dieser Mann also erzählte mir voller Verzweiflung, dass er irgendwo in der Wildnis eine Papierfabrik bauen sollte, aber auf schlechtem Grund, so dass der Bau als Neubau langsam versank. Dazu kam, dass seine Sprachlehrerin spurlos verschwunden war. Das war während der Vileda-Diktatur. Ich habe mich eine Stunde mit diesem Ingenieur unterhalten, und das war die Initialzündung für den Schlangenbaum.

Am Erker: Zum Schluss eine Frage nach dem Ende Ihrer Romane. Was macht für Sie ein bestimmtes Ende, wie Sie einmal gesagt haben, zwingend oder notwendig?

Timm: Ich kann nicht weiterschreiben. Das hört sich etwas mystifizierend an, aber es ist so. Jeder weitere Satz, jede weitere Situation erscheint mir, habe ich den Schluss erreicht, überflüssig. Warum? Wenn ich das genau wüsste, würde ich vielleicht nicht schreiben. Ich weiß nämlich, wenn ich an einem Roman schreibe, nie den Schluss. Ich bin selbst auf den Schluss gespannt, der sich dann einstellt, notwendig und unumstößlich. Das Ende ist für mich das Geheimnisvolle am Schreiben: Ich kann dann nicht weiterschreiben.