Fritz Müller-Zech 42
Die Kolumne
 

Die Neinsager sterben aus. Schade eigentlich, könnte man da gemeinsam mit meinem Versicherungsberater Herrn Meier-Wohlbehüth ausrufen, obwohl für den solche Veränderungen des Sprachgebrauchs normalerweise "kein Thema" sind. An die Stelle also des Neinsagers tritt der "Nicht-wirklich-Sager". "Möchtest Du noch eine Tasse Kakao?" frage ich meinen sechzehnjährigen Neffen Max. "Nicht wirklich", sagt er und grinst, denn er erwartet, daß ich nun zu einem sprachkritischen Monolog ansetzen werde. Tu ich aber nicht. Weil, manchmal wäre ich selbst gerne in der Lage, wenigstens mit "nicht wirklich" zu antworten. Wenn mich zum Beispiel Herr Meier-Wohlbehüth fragen würde, ob ich eine Berufsunfähigkeits-Versicherung abschließen wolle, könnte ich ihn mit diesen Worten abschlägig bescheiden. Dummerweise vermeidet er mit traumwandlerischer Sicherheit Fragen, die man mit nein oder zumindest mit "nicht wirklich" beantworten könnte. Deshalb verfüge ich, der noch gelernt hat, nein zu sagen, nun über eine Berufsunfähigkeitsversicherung, und das, obwohl ich gar keinen Beruf ausübe. Da mag natürlich überhaupt keine Vertrauenskultur zwischen Herrn Meier-Wohlbehüth und mir aufkommen, und das ist eigentlich sehr schlecht fürs Versicherungsgeschäft. Das Wörtchen "Vertrauenskultur" habe ich in Eckhard Henscheids aufschlußreichem Verzeichnis Alle 756 Kulturen auf der Suche nach der "Versicherungskultur" gefunden. Es stammt von der vormaligen "Grünen-Spitzenpolitikerin" Gunda Röstel. Eine Versicherungskultur gibt es natürlich nicht, zumindest ist sie Henscheid bisher nicht aufgefallen. Mir fehlt in seinem Verzeichnis übrigens eine der ursprünglichsten Kulturen, nämlich die Bakterienkultur.
Eckhard Henscheid hat sich ja schon häufig als Sprachkritiker hervorgetan, von ihm stammt, wenn ich mich recht erinnere, die schöne Wortschöpfung "Dummdeutsch". Ich allerdings fühle mich manchmal genauso dumm wie der Sprachgebrauch, den ich kritisieren möchte. Das kommt vom Fernsehen, hätte meine Tante Martha selig zu so einem Bekenntnis gesagt, und heute bin ich mehr denn je geneigt, ihr zu glauben. Andererseits könnte ich, wäre ich nicht Fernseher, meinen kritischen Passionen gar nicht nachkommen. Aber genug von mir geredet, kommen wir zu den Büchern.
Thomas Linde, die Hauptfigur in Uwe Timms neuem Roman Rot, besitzt überhaupt kein Fernsehgerät. Der Jazzkritiker und professionelle Beerdigungsredner lebt in einer fast leeren Wohnung, mit irdischen Dingen mag er sich nicht mehr belasten. Sein wirklicher Besitz steckt in seinem Kopf. Linde ist ein alternder Linker, einer der einmal organisiert für die Umwälzung der Verhältnisse gekämpft hat. Nun hat er eine junge, verheiratete Freundin und seine Erinnerungen. Die werden stärker, als er eine Grabrede auf Aschenberger, einen Gefährten aus der Zeit der politischen Kämpfe halten soll. Aschenberger war bis zu seinem Tod ein Neinsager. In seiner Wohnung findet Linde, außer einer Unmenge Bücher, auch ein Päckchen Sprengstoff. Offenbar wollte Aschenberger in einem letzten symbolischen Akt des Widerstands die Siegessäule sprengen. Nun trägt Thomas Linde dieses Vermächtnis in ganz konkreter Form mit sich herum, doch einlösen wird er es nicht.
Uwe Timms großartiger Erinnerungs- und Zeitroman beginnt damit, daß sein Held von einem Auto angefahren wird; er ist bei Rot über die Straße gegangen. Alles, was im weiteren Verlauf des Romans erzählt wird, schießt Thomas Linde in den wenigen Sekunden bis zu seinem Tod durch den Kopf. Wer wissen will, worum es bei der nachgetragenen 68er-Debatte vor einigen Monaten auch gegangen ist, sollte zuerst Rot lesen und dann vielleicht noch Heißer Sommer, Timms sozialistischen Erziehungsroman aus den frühen Siebzigern. Da faßt der Germanistikstudent Ullrich den Entschluß, der universitären Bohème und dem Seminarmarxismus adieu zu sagen und ein gewerkschaftlich engagierter Lehrer zu werden. Am Ende des Buches kann man in Kursivschrift lesen, woran damals nicht nur Romanfiguren glaubten, nämlich daß es eine Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung geben könne, ein "realisierbares Glück für alle". Das klang schön, war aber wahrscheinlich ein großer Irrtum. Darum geht es in Rot auch mehr um Fragen der individuellen Existenz, zum Beispiel ums Altwerden und Sterben. Und die Politik ist zum Bestandteil der persönlichen Geschichte geworden.
Nun bin ich tatsächlich ein wenig pathetisch geworden. Dabei bin ich selbst natürlich schon aus Altersgründen gar kein 68er, wäre aber, das gestehe ich an dieser Stelle, manchmal gerne einer gewesen. Schon immer habe ich fasziniert auf den Bildschirm gestarrt, wenn die oft gesehenen Dokumentaraufnahmen von Demonstrationen, Sit-ins und anderen Aktivitäten der revoltierenden Jugend zur Ausstrahlung gelangen. Mittlerweile reicht es schon, wenn die Farbe vom Fernsehschirm verschwindet und Bilder in schwarz-weiß zu sehen sind, um mich für längere Zeit zu fesseln.
Und einen Schwarz-Weiß-Film hatte ich auch vor Augen, als ich Thomas Hettches neuen Roman Der Fall Arbogast las, eine mit fiktiven Elementen angereicherte Rekonstruktion eines Kriminalfalls aus den fünfziger Jahren. Wie viele andere Leser hat mich dieses gradlinig erzählte Buch überrascht, da mir Hettche bislang eher als angestrengter Avantgardist bekannt war. An seinen Erstlingsroman Ludwig muß sterben (1989) erinnere ich mich nur noch aufgrund der erheblichen Mühe, die mir seine Lektüre bereitet hat. Und nun begibt sich dieser Hettche in die frühen Jahre der Bundesrepublik und zeichnet detailversessen das Bild einer Gesellschaft, die geprägt ist von einer geradezu panischen Angst vor dem Abgründigen, wie es in der Figur des vermeintlichen Sexualmörders Arbogast Gestalt annimmt. So entsteht ein ebenso packender wie beklemmender Roman.
Aber woher rührt dieses plötzliche Interesse an der jüngeren Geschichte? Nicht von ungefähr denkt man beim Lesen häufiger an die als "German Classics" annoncierten TV-Remakes von Filmen aus der Adenauerzeit wie Das Mädchen Rosemarie oder Es geschah am hellichten Tage. Möchte Hettche hier partizipieren, oder geht es ihm um die Dekonstruktion eben solcher nostalgie-induzierten Kolportage? Der Fall Arbogast läßt diese Fragen auf intelligente Weise offen und ist wahrscheinlich deswegen so erfolgreich, auch bei mir.
Noch weiter zurück in der Geschichte geht der bislang vor allem als Autor von Kriminalromanen bekannte Michael Molsner. Sein historischer Roman Um alles in der Welt widmet sich dem merkwürdigerweise nicht sehr bekannten Umstand der Finanzierung Lenins und seiner Bolschewiki durch das deutsche Kaiserreich. Insgesamt 50 Millionen Mark sollen geflossen sein, um sicherzustellen, daß Rußland dauerhaft aus dem Kreis der Gegner Deutschlands im 1. Weltkrieg ausscheidet. Eingefädelt hat die ganze Sache ein deutscher Diplomat namens Rietzler, der in Molsners Roman Ritter heißt. Ein brisanter Stoff also, und Molsner gelingt es, diesen zu einem über weite Strecken faszinierenden Buch zu gestalten, das sich wie eine Geheimgeschichte des 20. Jahrhunderts liest. Manchmal allerdings geraten ihm seine Dialoge doch zu papieren, und dann fragt man sich, ob eine Biographie Rietzlers nicht die bessere Option gewesen wäre. Der historische Roman nämlich ist ein tückisch Ding, mit dem selbst der große Feuchtwanger seine Probleme hatte. Um alles in der Welt ist übrigens eine der ersten Veröffentlichungen des frisch gegründeten münsterschen Oktober-Verlags, dessen wagemutigen Gründern ich von dieser Stelle alles Gute bei der Realisierung ihres ambitionierten Programms wünschen möchte. Vor Jahren, als ich noch lyrisch tätig war, trug ich mich ja selbst mit Plänen zur Gründung eines kleinen Verlages, scheiterte jedoch schon bei der Beschaffung des Startkapitals. Das Vertrauen der Oer-Erkenschwicker Volksbank in junge Entrepreneure war damals eben noch ziemlich begrenzt. Und wahrscheinlich war das auch richtig so. Das meint zumindest Herr Meier-Wohlbehüth, dem ich diese Geschichte neulich erzählt habe. Dabei hat er mich angegrinst und ein Auge verschwörerisch zugekniffen. Ob er noch auf etwas anderes anspielen wollte? Ich sollte vielleicht doch einen zweiten Blick in meine Versicherungsunterlagen werfen.

 

Eckhard Henscheid: Alle 756 Kulturen. Eine Bilanz. 121 Seiten. Zweitausendeins. Frankfurt am Main 2001. 20,00 DM.

Uwe Timm: Rot. Roman. 430 Seiten. Kiepenheuer & Witsch. Köln 2001. 44,00 DM.

Thomas Hettche: Der Fall Arbogast. Kriminalroman. Dumont. Köln 2001. 44,00 DM.

Michael Molsner: Um alles in der Welt. Roman. Oktober. Münster 2001. 42,00 DM.