Georg M. Oswald, Rechtsanwalt aus München und Kolumnist der Frankfurter Allgemeinen, erzählt in seinem Kriminalroman Unter Feinden eine spannende Geschichte über Loyalität und Verrat. Sein Protagonist, Kriminalhauptkommissar Markus Diller, ermittelt mit seinem ältesten und besten Freund Erich Kessel. Als dieser, trotz kaltem Entzug im Dienst, vorsätzlich einen jungen Drogendealer über den Haufen fährt, sieht Kessel die "eigentliche Katastrophe" nicht darin, sondern – so sehr ist Druck im Kessel – in den Drogen, die ihm fehlen. Auch Diller versucht, statt das Opfer zu versorgen, von Anfang an die Körperverletzung im Amt zu vertuschen. Wenn Diller Kessel erinnert: "Wir sind die Polizei", dann ist das also nur in einem formalen Sinn richtig. In Wahrheit sind die Polizisten die Kriminellen. Diller und Kessel leben nebeneinander her, Diller auf der Suche nach einer Lösung, Kessel auf der Suche nach Stoff.
Spannend ist die Geschichte vor allem wegen ihrer überraschenden Wendungen. Diese sind notwendig außergewöhnlich und daher immer erklärungsbedürftig. In solchen Fällen bedient sich Oswald gerne der Strategie, eine Erklärung als existent zu behaupten, dem Leser aber vorzuenthalten und für später zu versprechen ("Das war nicht bloß eine günstige Fügung. Dahinter steckte mehr. Er würde es herausfinden. Jetzt aber musste er sich um seine neue [Aufgabe] kümmern"). Nur kurzfristig wirkt diese Strategie, wenn – wie hier – die versprochene Erklärung ausbleibt. Spannung erzeugt Oswald zweitens durch eine gezielte Verzögerungstaktik. So findet eine angekündigte Gegenüberstellung erst am nächsten Morgen und ein Haftprüfungstermin in der Woche darauf statt. Ebenfalls in die Rubrik retardierender Vorausdeutungen zählt die bewährte "Fernzünder"-Technik: Der Autor zeigt dem Leser die brennende Lunte, ohne dass dieser ermessen könnte, wann die Bombe platzen wird. Den Zündungszeitpunkt bestimmt der Autor allein dramaturgisch: Das komatöse Opfer kann jederzeit aufwachen und aussagen, der kriminaltechnische Untersuchungsbericht jederzeit eintreffen und Aufschluss geben. Auf diese Weise "ferngezündet" verstirbt auch der Drogendealer, dessen Schicksal Oswald 185 Seiten lang in der Schwebe hält. Schade nur, dass der Verlag den Tod schon im Klappentext vorweggenommen hat, schließlich markiert dieses Ereignis just jenen Augenblick, in dem sich die Kommissare "von Verdächtigen, die kurz vor der Überführung standen, zurück in ermittelnde Kommissare" verwandeln. Drittens entsteht Spannung durch die vermeidbaren Fehler, die Diller begeht, sodass dessen Überführung nur eine Frage der Zeit zu sein scheint. Oswald versucht die Fehler zu plausibilisieren, indem er Diller sie erkennen und so bewusst in Kauf nehmen lässt. Doch das verschiebt das Problem nur: Nun ist zu plausibilisieren, warum Diller solche Fehler bewusst in Kauf nimmt. Dillers Fatalismus, den Oswald neben dessen Willen, die Familie zu schützen, stellt, vermag das nicht zu leisten, weil das Buch davon lebt, dass Diller die Tat vertuschen will. Oswald verhandelt sein Thema nicht nur auf der dienstlichen Ebene, sondern lässt es im Privatleben der Kommissare wiederkehren. Vordergründig geht es um den Kampf der Polizisten gegen ihren Dienstherrn und von Terroristen gegen den Staat, hintergründig um den von Schülern, unter ihnen Dillers Sohn, gegen ihre Lehrer. Als Grund, in diesen Kämpfen loyal zu bleiben, nennt Diller die Freundschaft, genauer: frühere Freundschaftsdienste ("Was auch immer Kessel getan hatte, er war sein Kumpel, sein ältester Freund. Durch ihn hatte er Maren", seine Frau, eine spätberufene Professorin, "kennengelernt, er hatte ihm die Stelle bei der Polizei verschafft"). Freundschaft erzeugt Loyalität, gibt ihr den Inhalt (als Anspruch auf künftige Freundschaftsdienste) und markiert deren Grenzen. So bricht Maren aus Liebe zu ihrem Mann ein Versprechen, das sie ihrem alten Freund Kessel gegeben hat. Das gestufte Konzept ist stimmig: Ist Freundschaft Grund und Grenze der Loyalität, löst sie umso stärkere Loyalitätsansprüche und -verpflichtungen aus, je enger sie ist. Wo die Freundschaft endet, gilt auch die Loyalität nicht mehr: Als es Diller "befreiend" erscheint, Kessel, den er "nicht länger decken" kann und will, verloren zu geben, verwandelt er sein Diktum "Wir sind die Polizei" in ein ausgrenzendes "Ich bin die Polizei". Rechtschaffen ist dieses "Ich bin die Polizei" allerdings nicht wirklich. Weder das Dienst- noch das Strafrecht ist Diller eine (weitere) Grenze der Loyalität: "Der rechtliche Standpunkt berücksichtigte nicht, dass Diller [gute] Gründe hatte, das genaue Gegenteil von dem zu tun, was möglicherweise klug gewesen wäre". Erst kurz vor Schluss erkennt er: "Er hatte einen Fehler gemacht und Kessel gedeckt[,] als es um den Unfall ging, aber er würde nicht mitmachen, einen Mörder vor der gerechten Strafe zu bewahren. Selbst dann nicht, wenn dieser Mörder ein Polizist und noch immer sein bester Freund war." An dieser Position ist bemerkenswert, dass Diller polizeilichen Corpsgeist, sozusagen institutionalisierte "Freundschaft", als einen (hier verneinten und damit generell möglichen) Loyalitätsgrund in Betracht zieht. Offen bleibt allerdings, warum die Loyalitätsgrenze ausgerechnet zwischen Körperverletzung mit Todesfolge einer- und Mord andererseits verlaufen soll.
Das ist nicht die einzige Frage, die unbeantwortet bleibt. Kriminalromane müssen Unerhörtes erzählen, ohne unglaubwürdig zu werden. Aber ist es glaubwürdig, dass Diller in der Tatnacht Kessel ans Steuer lässt, obwohl dieser so heftig unter Entzugserscheinungen leidet, dass Diller ihm zur Linderung schon Schnaps besorgt hat? Dass Diller sein Familienleben aufs Spiel setzt und Straftaten begeht, um Kessel zu schützen, obwohl Diller seinen Job doch gerade behalten will, um die Familie zu "ernähren" (das Einkommen einer Universitätsprofessorin reicht dafür selbstredend nicht aus), und Kessel sich seinerseits nicht immer loyal zu Diller verhält? Dass Diller sich zu Unrecht selbst bezichtigt, gefahren zu sein, und damit des Mordversuchs verdächtig macht? Dass Diller dies in der vagen Hoffnung tut, Kessel würde sich ebenfalls selbst bezichtigen, auf dass die Staatsanwaltschaft so in eine Beweisnot gerate? Und das, obwohl die Staatsanwaltschaft sich ebenso in Beweisnot befände, falls Diller weiter schwiege, eine Strategie, die jeder Polizist kennt und mit der Kessel und Diller selbst schon einmal davonkamen? Dass Diller für sein Schweigen sofort vom Dienst suspendiert würde, aber nach der Selbstbezichtigung nicht nur weitermachen darf, sondern auch noch im Hochsicherheitsbereich einer Sicherheitskonferenz eingesetzt wird, die einen terroristischen Anschlag befürchten muss? Dass es dort einen Raum gibt, der den Konferenzsaal in seiner ganzen Breite abdeckt, den nur Lamellen vom Rednerpult trennen und dessen Tür sich mit einem handelsüblichen Vierkantschlüssel öffnen lässt? Dass das Sicherheitspersonal einen solchen Raum nicht selbst als Beobachtungsposten nutzt, sondern unbewacht lässt? Dass das kriminelle Mastermind im Hintergrund während der Konferenz ein Präzisionsgewehr in diesem Raum hinterlegen kann, aber das Attentat keinem Präzisionsschützen, sondern einem Junkie anvertraut? Dass dieser Junkie, Kessel, vor Ort sein würde und diese Unwahrscheinlichkeit auch noch vorhersehbar war? Dass die Schwabinger Krawalle aus dem Jahr 1962 "mehr als fünfzig Jahre her" sind und doch das gesamte Buch hinweg vom Bundesgrenzschutz die Rede ist, der seit 2005 Bundespolizei heißt? Der Umstand dagegen, dass Polizisten überhaupt straffällig werden, stellt die Glaubwürdigkeitsfrage nicht. Schlimmer noch: Warum verstören uns kriminelle Kriminalkommissare nicht einmal mehr? Hat es damit zu tun, dass wir – wie Dillers Stieftochter Mona, eine Jurastudentin, meint – das Recht ohnehin nur wahren, weil wir Sanktionen fürchten? "Was bringt dich dazu, die Regeln einzuhalten?", fragt sie Diller in dem Irrglauben, dieser würde die Regeln einhalten, und liefert ihre Antwort gleich mit: "Die Angst vor Bestrafung, weiter nichts!" Ausgerechnet ein Bösewicht nimmt diese These später wieder auf: Das "Gute im Menschen, die Gesetze, die Religion, der Glaube, das Herz am rechten Fleck, etcetera [sic!]", all das sei es nicht: "Wir alle töten, wenn uns der Vorteil, den wir uns davon versprechen, groß genug erscheint". Ist das richtig, ist eine ökonomische Theorie des Strafrechts zu verfolgen und ergeben sich sogleich erste Ergebnisse: Das eine betrifft den Roman selbst. Im Hintergrund der Erzählung stellt sich am Beispiel der Schule die Frage, ob auch unsinnige Regeln befolgt werden müssen. Die ökonomische Theorie würde hier, vereinfacht gesagt, antworten, dass es nicht auf die Sinnhaftigkeit, sondern auf die Sanktionswahrscheinlichkeit ankommt. Das ist dann auch das andere erste Ergebnis: dass in der Politik zu verbreiten wäre, zum Zweck der Verbrechensprävention nicht Strafen oder Strafrahmen, sondern Aufklärungsquoten zu erhöhen. Freilich ist der Schuldirektor, der den Verweis gegen Dillers Sohn mit der Philosophie seiner Privatschule begründet ("Unser Auftrag ist, Ihre Kinder zu Menschen zu formen, die funktionieren ... Warum wollen Sie aus Ihrem Sohn einen kritischen Versager machen, der alles infrage stellt, anstatt zu lernen, wie man sich einer Aufgabe verschreibt?"), selbst als Karikatur einer autoritären 50er-Jahre-Predigt über Zucht und Ordnung überzeichnet, und behält auch im Roman die ökonomische Theorie nicht das letzte Wort: Am Ende der Erzählung erwägt Diller den gesellschaftsvertraglichen Gedanken, dass die Übereinkunft der Bürger, Recht und Gesetz zu achten, genüge, damit Krawalle "mit den Mitteln des Rechtsstaats, der wehrhaft genug war gegen die Wilden", bekämpft werden dürften. Das "Wir" in "Wir sind die Polizei" sind dann wir allesamt. |