Am Erker 61

"Matthias" BAADER Holst: hinter mauern lauern wir auf uns

Peter Wawerzinek: Das Desinteresse

"Matthias" BAADER Holst

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"Matthias" BAADER Holst
Hasenverlag
Peter Wawerzinek

 
Essays
"Beischlaf, Schuhcreme oder Schießbefehl" - Erinnerung an den Hallenser Brachiallyriker 'Matthias' BAADER Holst
Martin Brinkmann
 

Jäher Tod oder der Einbruch des Wahns begründen häufig einen Dichtermythos. In der Literaturgeschichte finden sich viele Beispiele dieser Art: von Hölderlin, der jahrzehntelang wahnsinnig in seinem Tübinger Turmstübchen vor sich hinbrütete, über den mit nur dreiundzwanzig Jahren verstorbenen Georg Büchner, dessen Werk ebenso schmal wie grandios ist, allerlei genialische expressionistische Dichter nicht zu vergessen, die in jungen Jahren dem Ersten Weltkrieg direkt oder indirekt zum Opfer gefallen sind, bis hin zu den Pop-Ikonen Rolf Dieter Brinkmann und Jörg Fauser, deren dichterische Qualität durch ihr frühzeitiges Ableben beglaubigt scheint.
Den frühen Tod als Voraussetzung für die Aufnahme in die Ruhmeshalle erfüllt auch "Matthias" BAADER Holst. Der 1962 in Halle an der Saale geborene Dichter, der sich gerne als schriller Schmerzensmann stilisierte, war gerade mal achtundzwanzig Jahre jung, als er in den turbulenten Nachwendemonaten unter brutalen Umständen ums Leben kam. Zurückkehrend von einem Künstlerfest, wurde der Punk-Poet mit dem dadaistisch-terroristischen Beinamen am 24. Juni 1990 gegen fünf Uhr morgens in der Oranienburger Straße/Ecke Friedrichstraße von einer Straßenbahn angefahren, "mit 25 noch am leben zu sein ist eine schande", hatte BAADER gedichtet. Solche Verse nähren natürlich Spekulationen, ob sich hinter seinem frühen Tod mehr als 'nur' ein Unfall verbergen könnte. Einige sprachen sogar von Mord, zumal mehrere Autoren der Prenzlauer-Berg-Szene in jener Zeit unter mysteriösen Umständen zu Tode kamen. Nachdem er eine Woche lang in der Berliner Charité um sein Leben gerungen hatte, ohne dass man die Identität des Patienten kannte, erlag BAADER am 30. Juni 1990, dem letzten Tag der DDR-Mark, seinen schweren Kopfverletzungen: "du kannst dich rühren/ ich bin nicht: zeichen". Auch dies hatte er gedichtet, und zwar als abschließende Verse seines furiosen, 1990 erschienenen "texte"-Bandes traurig wie hans moser im sperma weinholds, dessen Erscheinen er selbst aus genannten Gründen knapp verpasste.
Zwei Jahre zuvor war BAADER, der sich in Halle bereits als stadtbekanntes Originalgenie etabliert hatte und dessen Texte vereinzelt in halboffiziellen Literaturzeitschriften zu lesen waren, nach Ost-Berlin gekommen. Halb auf der Flucht vor seiner Einberufung zum Wehrersatzdienst, halb entführt von dem Bachmann-Preisträger dieser Tage, Peter Wawerzinek, der damals auf der Suche nach einem Dichter war, "mit dem ich was anfangen konnte", gelangte BAADER an den Prenzlauer Berg. Was ihm hier begegnete, hat Wawerzinek in seiner soeben erschienenen Festschrift für einen Freund als ein einziges "Desinteresse" beschrieben. Der alteingesessene DDR-Underground um Sascha Anderson & Co hatte offenbar anderes zu tun, als den schrägen Dichter-Vogel aus Halle zu begutachten. Wie sehr BAADER auch randalierend und tabubrecherisch in Erscheinung trat, die Szene-Könige ignorierten ihn weitgehend als lyrisch irrelevanten Clown.
Heute hat sich das Blatt offenbar gewendet. Es könnte sein, dass von der letzten DDR-Literatur besonders "Matthias" BAADER Holst in Erinnerung bleibt. Was der Brachiallyriker hinterlassen hat, ist zwar nicht gerade viel: eine Handvoll Textsammlungen, ein paar Bild- und Tonaufnahmen, eine Menge Kritzelzeichnungen. Die schmale künstlerische Hinterlassenschaft scheint aber auszureichen, um besagten Mythos vom genialisch-kompromisslosen Außenseiter zu rechtfertigen. Mit den Jahren bildete sich eine kleine Fangemeinde um BAADER. Erste wissenschaftliche Untersuchungen entstanden. Sogar ein Verein wurde gegründet, der sich darum bemüht, das weit verstreute Werk des Dichters zusammenzuführen. Mit der Zähigkeit des gewissenhaften Archivars hat der Jenaer Literaturwissenschaftler Tom Riebe jahrelang gesammelt, gesichtet, arrangiert. Der Band hinter mauern lauern wir auf uns, den er zum zwanzigsten Todestag des Dichters herausgegeben hat, versammelt alle zu Lebzeiten von "Matthias" BAADER Holst veröffentlichten beziehungsweise zur Veröffentlichung zusammengestellten Texte.
Besonders die Sammlung traurig wie hans moser im sperma weinholds, bei ihrem Ersterscheinen unvergleichlich hässlich in einen roten, im DDR-Bibliothekswesen obligaten Schutzumschlag gehüllt, begründet Holsts Ruf als eines potenziellen Großtalents. Hierin findet sich mit "für myriam" der wohl schönste Text, der von BAADER überliefert ist. Die Eingangsverse sind legendär:
"du in londen ich im leichenschauhaus
ein jeder wohl auf seinem platz
wir schliefen einst ins licht uns einsam
du gabst dich hin ich las die taz"
Kennzeichnend für die Dichtung BAADERS ist die Stilisierung zum gepeinigten, todgeweihten Außenseiter, der cool, vielleicht sogar masochistisch den eigenen Untergang erwartet. Bei BAADER ist das Individuum nicht nur stets von der Auslöschung bedroht, es sehnt sich geradezu danach, endlich vernichtet zu werden: "wir wollen schutzlos in der nase popeln/ uns inhaftieren flehn um unsern sturz", heißt es in einem anderen Text derselben Sammlung. Bei aller düsteren Ausweglosigkeit, die hier, häufig durch schräge Töne gebrochen, beschworen wird, gelingen dem Lyriker immer wieder schmerzend schöne, luftig freie Verse, die die Vorbilder der klassisch modernen Lyrik nicht verleugnen können, wie etwa die letzte Strophe von "ceaucescu meiner seele":
"ich bin am ende doch das hat nichts zu heißen
wer zu lang lebt verliert sich schnell
ich mag die augenklappe an tom sawyer viel lieber
als allen ostseesand in wilhelm tell"
Auf die Zumutungen des "Sinnregimes" namens DDR reagiert BAADER mit totaler Verweigerung, sowohl im Leben wie im Text. Dem Übermaß an Sinn, das staatlich verordnet ist, antwortet seine Lyrik mit dadaistischem Nonsens. Aufgrund seiner Neigung, populärkulturelle Ikonen aufzurufen, von Miss Marple bis Doc Mabuse, kann er als Vorreiter der Slam Poetry bezeichnet werden. Dies umso mehr, als er dem Vortrag der Dichtung größere Priorität einräumte als dem geschriebenen Wort. Hiervon kann sich überzeugen, wer die beiden Videos begutachtet, die der Publikation als CD-ROM beigegeben sind: Baader in Leipzig aus dem Jahr 1989 ist eine genialisch schaurige Stadtführung, die der mittlerweile international anerkannte Künstler Jörg Herold drehte; Briefe an die Jugend des Jahres 2017 dokumentiert eine zusammen mit Peter Wawerzinek durchgeführte Reise durch die kaputte DDR, auf der BAADER etwa in Bitterfeld vor verdreckten Gewässern seine Untergangslyrik kraftvoll inszeniert.
In vielen Texten, vor allem aus den Sammlungen zwischen bunt und bestialisch: all die toten albanier meines surfbretts sowie koitusbonzen rotzen, übertreibt BAADER allerdings die avantgardistische Kraftmeierei. Angesichts der hier - formal anstrengend, das heißt ohne Zeilenumbrüche - gebotenen Fülle an Gewaltverherrlichungen und politischen wie sexuellen Tabubrüchen gewinnt die von Hans Magnus Enzensberger geprägte Formel von den "Aporien der Avantgarde" wieder an Gewicht. Der Text "viel spaß auf der titanic" hebt etwa wie folgt mit den klanglich schön kombinierten Worten an:

"beischlaf schuhcreme oder schießbefehl: egal aber sag mir nie die wahrheit ich gebe dir alles dafür: mein herz meinen bakuninslip meine fleischmarken ich halte dir einen platz frei in der weltgeschichte vielleicht zwischen beowulf und brechreiz vielleicht zwischen benn und bethlehem vielleicht in der straßenbahn"

Was zunächst erfrischend anders klingt, von unbändiger Kraft und verzweifelter Wut scheint, ermüdet auf die Dauer. Das Prinzip, Vokabeln aus den Folterzentren der Macht mit Alltäglichem und Exotischem wild zu mixen, ist rasch erfasst, Steigerungen erregen bald kaum mehr Aufsehen: "auferstanden aus einem berg reizwäsche", beginnt ein anderes Gedicht aus koitusbonzen rotzen, "bilden gladiatoren einen regenbogen, der den todessprung aus der löwengrube in einen zerspanungsfacharbeiterlehrgang einer sogenannten chinesischen krippe übergibt, die aufgrund eines von der sippe noch unbezahlten einschusses etwas später öffnet". Ein anderes Gedicht ist noch kürzer - und macht noch ratloser: "zwischen schlüpfer und gummi unbehaart stehst du vorm iglu und fragst nach dem nasenstein der lesbo päderasto an-ARCH:o afro-jüdischen gängelung".
Leider lässt die vorliegende Neuausgabe, die in vorbildlicher Weise lange Zeit vergriffenen Text wieder zugänglich macht, diese Aspekte des Holstschen Werkes unkommentiert. Wenn sie dem mutigen Konsumenten in Aussicht stellt, "sich abseits ausgetretener Pfade und jenseits akademischer Bevormundungen und Profilierungs(sehn)sucht auf Entdeckungsreise zu begeben", läuft sie Gefahr, Opfer ihrer eigenen Sehnsucht nach dem Mythos zu werden. Die "kreativen Lebens- und Widerstandsformen" sowie "einzigartigen künstlerischen Ausdrucksweisen und Positionsbestimmungen", die da beschworen werden, sind am Ende nicht ganz so kreativ und auch keineswegs so einzigartig, wie man es wohl gerne hätte. Allein in der Nichtanerkennung von allem und jedem beansprucht BAADER einen der vordersten Plätze; den Mauerfall begrüßte er mit den Worten: "ich habe das recht im namen des unrechts 'frei zu reisen' ich trete die deportation nicht an"; sein Kommentar zur Einheit lautet: "da ich die letzten 10 jahre am rande dieses sinnregimes gelebt habe wüßte ich nicht warum ich grade jetzt die möglichkeit einer diktatur anerkennen und gutheißen sollte". Ob die weitere Erschließung des Holstschen Nachlasses neue Facetten des Dichters präsentieren kann, ist eine spannende Frage.

 

"Matthias" BAADER Holst: hinter mauern lauern wir auf uns. Drei Textsammlungen und verstreute Texte aus den inoffiziellen und offiziellen Publikationen bis 1990. Neu herausgegeben von Tom Riebe. Mit zwei Videos auf CD-ROM. 274 Seiten. Hasenverlag. Halle/Saale 2010. € 19,80.

Peter Wawerzinek: Das Desinteresse. Festschrift für einen Freund. Der Hallenser Dichter "Matthias" BAADER Holst. 126 Seiten. Hasenverlag. Halle/Saale 2010. € 12,80.